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taz - 21.06.2012

Forschung zu Nachhaltigkeit

Notwendige Neuorientierung

In Deutschland formiert sich eine Wissenschaftler-Allianz für mehr 
Nachhaltigkeit und Transformation. Experten für Umwelt und Naturschutz werden 
rarer

Von Manfred Ronzheimer

Der Nachhaltigkeitsgipfel in Rio zeigt: Der Zustand des Planeten verlangt ein 
Umsteuern. Auch die Forschung müsse ihren Beitrag zur "Großen Transformation" 
leisten, fordert vor kurzem der Wissenschaftliche Beirat für Globale 
Umweltveränderungen (WBGU). In ihrem letzten Gutachten haben die Berater von 
Angela Merkel sogar die Einrichtung einer "Bundesuniversität" empfohlen, die 
"Forschung und Bildung für die Transformation zur Nachhaltigkeit" zum 
Hauptthema haben soll.[1]

Der Weg dorthin ist aber noch weit. Erst vereinzelt keimen in der deutschen 
Wissenschaftslandschaft Pflänzchen einer neuen "Nachhaltigkeits- und 
Transformationsforschung", wie sie etwa die Lüneburger Leuphana-Universität zum 
Leitbild [2] erhoben hat. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) warnt 
sogar vor einer weiteren Verschlechterung, nachdem er in den letzten Jahren 
immer häufiger feststellen musste, dass ihm Ansprechpartner für Natur- und 
Umweltfragen in den Hochschulen zunehmend abhandenkamen.

In einer Studie ("Nachhaltige Wissenschaft") [3] kommen die Naturschützer zu 
dem alarmierenden Befund, dass in den deutschen Hochschulen die auf 
Nachhaltigkeit und ökosystemare Zusammenhänge ausgelegten Lehrstühle und 
Forschungsinstitute auf der "Roten Liste" der gefährdeten 
Wissenschaftsdisziplinen stehen.

"Wir konstatieren eine dramatische Veränderung in der Wissenschaft, ohne dass 
dies in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erregt hat", stellt der 
BUND-Vorsitzende Hubert Weiger fest. So seien in den vergangenen Jahren die 
Lehrstühle für Freiland-Ökologie abgewickelt worden, um an deren Stelle dann 
genetische und mikrobiologische Lehrstühle einzurichten.

Deutsche Forscher angewiesen auf Österreich

Immer stärker dominiere auch in der Biologie die Anwendungsorientierung, etwa 
zur Nutzung gentechnisch veränderter Pflanzen. Überblicksorientierte 
Forschungsrichtungen mit Grundlageninteresse, etwa zur Biodiversität, sind auf 
dem Rückzug. Mittlerweile sind deutsche Forscher bei diesen Themen auf die 
Zuarbeit von Kollegen aus Österreich angewiesen.

Das Unbehagen über diese Entwicklung hat über den Wissenschaftlichen Beirat des 
BUND inzwischen zu einer neuen Allianz der Ökoforscher geführt: dem "Verbund 
für Nachhaltige Wissenschaft" (NaWis) [4], der im aktuellen Wissenschaftsjahr 
[5] des Forschungsministeriums mit mehreren Veranstaltungen unter dem Titel 
"Transformatives Wissen schaffen" [6] auftritt.

Dem Verbund gehören neben den Universitäten Kassel und Lüneburg auch das 
Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie [7] sowie das Potsdamer Institute 
for Advanced Sustainable Studies (IASS) [8] unter Leitung von Klaus Töpfer an. 
Uwe Schneidewind [9], Präsident des Wuppertal-Instituts und maßgeblicher 
Initiator des NaWis-Verbundes, plädiert für ein ganzheitliches 
Wissenschaftskonzept mit gesellschaftlicher Orientierung.

"Wir brauchen für unsere Umwelt nicht nur immer mehr neue und effizientere 
Technologien", so der Ökoforscher. "Es fehlt in Deutschland an Forschung für 
Transformationsstrategien." Naturwissenschaften und Geistes- plus 
Sozialwissenschaften müssten auf neue Weise zusammengeführt werden. Das 
Forschungssystem, so Schneidewind, müsse "stärker auf die großen 
gesellschaftlichen Herausforderungen" - wie Klima, Armut, Gesundheit und neue 
Wachstumsmodelle - ausgerichtet werden.

Reduzierter Spielraum

Der eigene große Veränderungsprozess des letzten Jahrzehnts in der deutschen 
Wissenschaftslandschaft, die Exzellenzinitiative, hat den Ökofächern auch nicht 
geholfen. Mehr Drittmittel von Auftraggebern, mehr Industrienähe sind jetzt zum 
Mainstream in den deutschen Hochschulen geworden. Der Spielraum für unabhängige 
und kritische Wissenschaft reduziert sich dadurch.

Auch mit der jüngsten Ausschüttung des Exzellenz-Füllhorns mit 2,7 Milliarden 
Euro auf 39 Universitäten werden Forschungscluster und Graduiertenschulen 
gefördert, die nach Auffassung Schneidewinds "von den Ideen wirklich 
transdisziplinären Designs noch erheblich entfernt sind". Immerhin sei im 
Vergleich zur ersten Runde des Exzellenzwettbewerbs aus Sicht einer 
"Wissenschaft für Nachhaltigkeit" eine leichte Verbesserung zu erkennen.

Unter den 88 DFG-geförderten Einrichtungen macht Schneidewind 15 aus, die einen 
"unmittelbaren Bezug zum Themenfeld Nachhaltigkeit und der damit verbundenen 
Transformation" besitzen. Darunter Graduiertenschulen für Afrikastudien 
(Bayreuth) [10] und Energiewissenschaft (Darmstadt) [11] sowie Exzellenzcluster 
zu Biomasse-Kraftstoffen (Aachen) [12] und den Ozeanen der Zukunft (Kiel) [13]. 
Auch im Zukunftskonzept der Uni Tübingen ("Forschung, Relevanz, Verantwortung") 
[14] lasse sich ein neuer Kurs erkennen.

Kurz vor der Rio-Konferenz hatte sich außerdem die Deutsche Unesco-Kommission 
mit einem Memorandum ("Wissenschaft für Nachhaltigkeit: Der Durchbruch muss 
gelingen") [15] für eine Wissenschaftswende ausgesprochen. "Wir müssen die 
Nachhaltigkeitswissenschaft als einen dringend nötigen Reformmotor für das 
Wissenschaftssystem insgesamt nutzen", sagt der Autor des Papiers, Gerd 
Michelsen, Gründer des Öko-Instituts und heute Inhaber des Unesco-Lehrstuhls 
"Hochschulbildung für nachhaltige Entwicklung" [16] an der Uni Lüneburg.

Immerhin finden die Transformationsforscher jetzt auch politisches Gehör. In 
der kommenden Woche werden Schneidewind und seine Kollegen vom 
Bundestags-Forschungsausschuss angehört [17]. Und am 3. Juli wird in Berlin von 
mehreren Verbänden - unter anderem Naturschutzorganisationen und 
Wissenschaftlervereinigungen - die "Zivilgesellschaftliche Plattform 
Wissenschaftspolitik" [18] gestartet, die eine "nachhaltigkeitsorientierte 
Reform" der Wissenschaftspolitik anstrebt.

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LINKS [Red.]

[1] http://nachhaltigewissenschaft.blog.de/2011/04/09/
[2] http://www.leuphana.de/universitaet/profil/leitbild.html
[3] http://www.bund.net/themen_und_projekte/nachhaltigkeit/wissenschaft/
[4] http://nachhaltigewissenschaft.blog.de/2011/07/03/
[5] http://www.zukunftsprojekt-erde.de/
[6] http://nachhaltigewissenschaft.blog.de/2011/12/13/
[7] http://www.wupperinst.org/
[8] http://www.iass-potsdam.de/
[9] http://www.wupperinst.org/kontakt/cont/?kontakt_id=1092
[10] http://www.uni-bayreuth.de/universitaet/profilfelder/afrikastudien/
[11] 
http://www.tu-darmstadt.de/forschen/wissenschaftler_innen_1/exzellenzinitiative_3/gsenergyscienceandengineering_1.de.jsp
[12] http://www.fuelcenter.rwth-aachen.de/
[13] http://www.futureocean.org/
[14] 
http://www.uni-tuebingen.de/aktuelles/newsletter-uni-tuebingen-aktuell/2012/sonderausgabe/erfolg-in-der-exzellenzinitiative.html#c95499
[15] http://www.unesco.de/memorandum_wissenschaft_nachhalt.html
[16] http://www.leuphana.de/institute/infu/unesco-chair.html
[17] 
http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/39506128_kw26_pa_bildung_forschung/
[18] http://nachhaltigewissenschaft.blog.de/2012/07/08/



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