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30. Mai 2017

Helmut Holzapfel: Neue Mobilität - Mit weniger mehr erreichen

Prof. Dr.-Ing. Helmut Holzapfel ist Stadtplaner, Bauingenieur und
Verkehrswissenschaftler. Seine Schwerpunkte sind integrierte Verkehrsplanung
sowie Mobilitätsentwicklung. Er leitet das Zentrum für Mobilitätskultur in
Kassel. Zuvor war er u.a. Professor für Verkehrsplanung in Kassel.

DENKHAUS BREMEN: Sie haben sich als Wissenschaftler mit den Themen Mobilität
und Verkehrsplanung auseinandergesetzt. Was ist Ihre Vision für die
Mobilität der Zukunft?

HELMUT HOLZAPFEL: Wir müssen eine andere Mobilitätskultur entwickeln, die
wir gerade in den urbanen Zentren gut umsetzen können. Mobilität bedeutet ja
nicht, "weit herum zu fahren", sondern dass wir räumliche Ziele erreichen
wollen. Das Konzept einer "Stadt der kurzen Wege" setzt das planerisch gut
um.

Eine neue Mobilitätskultur bringt ein anderes Verhalten mit sich - also zu
Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs zu sein statt mit dem Auto. In Städten
wie Amsterdam ist das schon heute gut möglich. Der öffentliche Raum bekommt
dort sofort wieder einen höheren Stellenwert, mit vielen positiven
Auswirkungen. Auf der anderen Seite wird der motorisierte Verkehr natürlich
abgewertet.
Meine Vision wäre es, in einer Stadt der kurzen Wege den Autoverkehr auf
maximal die Hälfte zu verringern und gleichzeitig zu verlangsamen. Am
Beispiel Kopenhagen sieht man, dass dies nicht erzwungen werden muss oder
gar darf. Durch den eingeleiteten Wertewandel in der Mobilitätskultur
geschieht das ganz automatisch. Den erkennt man bereits in der jüngeren
Generation. Die jungen Leute sitzen wieder in Kaffeehäusern und erreichen
durch "weniger Auto" eine höhere Lebensqualität. Jeder, der in einem Café an
der Straße sitzt, fährt ja kein Auto und nimmt den Autoverkehr dann gleich
anders wahr. Die SUVs, die durch die Städte fahren, wirken dann sehr viel
unangenehmer und werden auch thematisiert. Diese Vision passt eigentlich
wunderbar zu dem Begriff Degrowth ...

DHB: Wo genau sehen Sie denn die Verbindung Ihrer Vision zu Degrowth?

HH: Durch eine neue Mobilität wird mit weniger mehr erreicht. Wir haben
weniger Umsatz im Markt, weil wir weniger Automobile haben. Das Fahrrad ist
aus meiner Sicht zwar eine wesentlich ökonomischere Einrichtung als ein
Automobil. Aber in der großen Ökonomie ist es natürlich weniger wert als ein
Auto, das ja manchmal so viel kostet wie eine Eigentumswohnung. Das heißt,
hier haben wir etwas gewonnen für uns - nämlich Lebensqualität, mit weniger
ökonomischem Aufwand. Dagegen halte ich Visionen, die die urbane Umwelt mit
automatischen Autos bevölkern wollen, für eher weniger zukunftsfähig. Die
müssten nämlich erst wieder produziert und verkauft werden und führen unter
Umständen sogar zu noch mehr motorisiertem Individualverkehr.

Ich finde wir brauchen ein Recht auf schöne, angenehme Städte und wir
brauchen ein Recht auf Räume, die für alle Bürger frei zugänglich sind. Denn
das ist unsere Stadt, das sind unsere Räume. Es gibt ja gute Beispiele, an
denen wir das sehen. In Städten wie Freiburg, Tübingen, in Amsterdam und
Kopenhagen ist es gelungen, eine höhere Lebensqualität bei einer starken
Reduktion des Autoverkehrs zu erreichen.

DHB: Wo liegen denn Ihrer Meinung nach die Hemmnisse? Warum ist das nur in
diesen Städten realisiert worden, warum ist das nicht überall so? Wie weit
sind solche Szenarien überhaupt realistisch?

HH: Naja, es braucht schon einigen Mut, viele Kommunalpolitiker scheuen die
Auseinandersetzung oder wissen gar nicht um die positiven Effekte einer
neuen Mobilitätskultur. Und es braucht natürlich eine andere Verteilung von
Geld. Verwaltungen sind abgebaut worden und in vielen Städten gibt es keine
Verkehrs- oder Stadtplaner mehr. Wir haben in den Stadtverwaltungen schlicht
niemanden mehr, der solche Konzepte für die Menschen in urbanen Räumen
richtig umsetzen könnte.

Dazu kommt, dass die Aufmerksamkeit und Finanzmittel für das, was ich "Nähe"
nenne, gering sind. Statt die Situation in den Städten zu verbessern werden
die Steuergelder in den Ausbau großer Fernverbindungen gesteckt. Dabei wäre
die Gestaltung von öffentlichen Räumen natürlich wesentlich günstiger als
die Produktion von Autobahnen. Im Bundesverkehrswegeplan werden die
Investitionen für den Bau von immer mehr Straßen festgelegt, die auf unsere
urbanen Zentren zuführen. Dabei macht sich niemand Gedanken darüber, welche
Auswirkungen Autos auf unsere "Nahräume" in den Städten haben. Das müsste
umgedreht werden. Ein Teil des Geldes, sagen wir 30 Prozent der Mittel für
die Planung von Fernstraßen, müsste an die Städte gehen für Modellprojekte
zur besseren Nutzung öffentlicher Räume. Das würde viele Probleme lösen.

Die negativen Auswirkungen des Autoverkehrs - Stichwort Stickoxide -, die
könnten uns dazu veranlassen, so etwas einzuleiten und stärker zu
propagieren. Ich denke aber, dass es nicht mehr ausreicht, immer nur negativ
auf den Autoverkehr zu zeigen. Wir müssen Alternativen fordern und umsetzen.
Hier denke ich z. B. an den öffentlichen Verkehr. Die Mittel hierfür liegen
seit Jahren platt und ich fordere, dass diese in den nächsten 10 Jahren um
50 Prozent erhöht werden. Damit könnten wir die Nutzung von Straßenbahnen
und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln besser fördern.

DHB: Es ist schon angeklungen: Visionen sind das eine, konkrete Schritte das
andere. Wenn Sie Verkehrsminister wären - was wären die ersten Dinge, die
Sie sofort in Angriff nehmen würden?

HH: Ich würde sofort ein Modellprogramm für eine andere urbane Zukunft auf
den Weg bringen. Dazu würde ich den Bundesverkehrswegeplan ändern und
eingesparte Mittel sowohl für die Modellprojekte als auch für den Ausbau des
öffentlichen Verkehrs verwenden. Wichtig wäre mir auch, die Kosten des
Autoverkehrs sichtbar zu machen. Die belasten die Haushalte von Kommunen,
Ländern und im Bund und treffen damit auch unbeteiligte Dritte. Etwa die
Kosten zur Reparatur von Straßen: Ein SUV, das doppelt so schwer ist wie ein
normales Auto, belastet die Straßen mehr als 36-mal so stark wie ein kleines
Fahrzeug! Außerdem brauchen wir in unseren Städten eine Begrenzung der
Fahrzeugbreite. Ein Geländeauto, das mehr als zwei Meter breit ist, hat in
unseren Städten eigentlich nichts zu suchen.

DHB: Dieses Maßnahmenpaket wäre ja eine ziemliche Zäsur in der Art und
Weise, wie wir Mobilität denken. Ist so eine Veränderung in der
Vergangenheit schon irgendwo gelungen, fallen Ihnen da Beispiele ein?

HH: Ja, klar! Die "Verkehrswende" ist ja ein Ausdruck, der gerade sehr
modern ist. Wenn ich von einer neuen Mobilitätskultur rede, dann möchte ich
dabei die Menschen mit ihren täglichen Bedürfnissen in den Mittelpunkt
stellen. Es gab in der Vergangenheit immer wieder Fälle, wo so etwas
gelungen ist. Etwa in NRW unter dem Verkehrsminister Christoph Zöpel, wo ich
selber arbeiten durfte. Dort wurde in den 1980er Jahren ein Programm zur
Wohnumfeldverbesserung initiiert. Es wurden Tempo-30-Zonen eingerichtet, die
bei den Bürgern dort positiv angekommen sind. Diese Wohngebiete sind auch
heute noch beliebt.

Es gibt diese Beispiele, und die müssten ausgeweitet werden. Stattdessen
wird die verkehrspolitische Debatte derzeit von Automatisierung und
dergleichen bestimmt. Für mich sind das Randthemen, die hochgespielt werden.
Eine Automatisierung wäre vielleicht dann günstig, wenn wir als Erstes
einführen würden, dass Autos die Verkehrsschilder erkennen und die
Geschwindigkeitsbegrenzung einhalten. Dann hätte man wenigstens schon mal
was gewonnen, aber nicht einmal das ist bisher gelungen.

DHB: Was sind Ihre Vorschläge, wo sich die Umweltverbände sinnvoll in die
Debatte einmischen sollten?

HH: Erst einmal müsste der Verkehrssektor wieder als Erfolgssektor gesehen
und erkannt werden, dass das Elektroauto kein Erfolgsmodell für eine andere
Verkehrspolitik ist. Ein E-Auto hat im Betrieb noch 90 Prozent der
Feinstaubbelastungen eines herkömmlichen Fahrzeugs. Das heißt, diese
technische Lösung ist eigentlich gar keine Lösung! Das müssten die
Umweltverbände verstehen und sie müssten wieder an den Erfolgsmodellen
ansetzen, die wir vorhin diskutiert haben. Im klassischen Bild steht das
Automobil für Wachstum. Wir können das wunderbar mit Degrowth verbinden,
indem wir sagen: Der Automobilsektor ist ein Bereich, wo wir mit weniger
Wachstum mehr Lebensqualität erzeugen. Die Arbeitsplätze werden hier als
Argument auch immer weniger relevant. Das E-Auto wird, wenn es denn kommt,
weit weniger Arbeitsplätze bieten als derzeit vorhanden sind.

Ich halte ein weiteres Thema noch für sehr wichtig: die globale
Logistik-Industrie, die unsere ganze Welt belastet. Der Güterverkehr wird
immer wieder ausgeblendet, auch aus den Betrachtungen der Umweltbewegung. Es
wäre gut, mal wieder zu problematisieren, dass der weltweite Warenfluss
nicht gerade positiv ist, sondern das Klima erheblich belastet.
Wirtschaftlich wird der globale Warenaustausch immer positiv gesehen, aber
der kostet sehr viel Energie. Wir müssen uns unbedingt Gedanken machen, wie
wir das ändern und wie wir dort eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und
Verkehrswachstum hinbekommen.

DHB: Sie haben die Automobilindustrie bereits angesprochen: Wo sehen Sie
hier Potenziale zur Veränderung in Richtung Degrowth?

HH: Wie gesagt, eine Abnahme der Beschäftigungszahlen im Automobilsektor
wird es durch das E-Auto ohnehin geben. Da ist es meiner Meinung nach sehr
viel sinnvoller zu sagen, wir nehmen Teile der Autoindustrie und lassen sie
über Mobilität in unseren Städten nachdenken. Ich habe letztes Jahr bei
Daimler während eines Vortrags vorgeschlagen, dass sich diese Firma auch mit
Stadtplanung befasst und mit der sinnvollen Gestaltung von öffentlichen
Räumen. Das würde Arbeitsplätze in der Automobilbranche schaffen, die dazu
dienen könnten, dass wir ein geringeres Verkehrswachstum in den Städten
haben - und einen Gewinn an Lebensqualität. Dieser Vorschlag war für einige
der anwesenden Motorspezialisten zwar etwas exotisch, wurde von anderen aber
sehr interessiert aufgenommen.




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