Deutschlandfunk
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18.09.2017

Zukunft der Mobilität

"Autonome Fahrzeuge sind eine riesen Dystopie"

Auf der Internationalen Automobilausstellung werden sie gefeiert:
Roboterfahrzeuge, die selbstständig fahren und technisch vernetzt sind. "Wir
kommen in eine Welt, die ganz technologisch gesteuert ist und in der wir
Teil einer großen Fabrik sind", warnt Mobilitätsforscher Martin Lanzendorf
im Dlf.

Martin Lanzendorf im Corsogespräch mit Adalbert Siniawski

Adalbert Siniawski: Was uns in den kommenden Jahren auf der Straße erwarten
wird, ist jetzt schon zu sehen. Seit dem Wochenende ist die Internationale
Automobilausstellung in Frankfurt am Main für das Publikum geöffnet - eine
wichtige Leistungsschau der Branche, die sich da präsentiert. Ein Blick auf
das Design der Autos und die Mobilitätskonzepte verrät auch, welche
Gesellschaftsentwürfe von Herstellerseite verhandelt werden. Schließlich
lautet das Motto der IAA: "Zukunft erleben". Martin Lanzendorf [1] ist
Mobilitätsforscher an der Universität Frankfurt am Main - willkommen zum
Corsogespräch.

Martin Lanzendorf: Ja, schönen, guten Tag!

Siniawski: Das Lenkrad war schon immer quasi das Symbol für
Selbstermächtigung und den Individualverkehr - aber es verändert sich, es
wird eckiger, kleiner oder verschwindet sogar ganz. Denn: Die Autos der
Zukunft fahren autonom! Ein weitgehendes Beispiel auf der IAA ist der
vorgestellte Prototyp Audi Aicon, der - ähnlich wie dieses Google-Auto, über
das man immer wieder gelesen hat - ohne Lenkrad und Pedale fährt. Wird das
Auto in Zukunft zum Roboter und der Mensch zum bloßen Beifahrer eines
Algorithmus?

Lanzendorf: Das ist sicherlich eine große Gefahr, die uns allen droht. Also,
ich glaube die Visionen, die damit verbunden sind - mit autonomem Fahren,
mit Algorithmen, mit Robotern - die bedeuten natürlich, dass wir zunehmend
in eine Welt kommen, die ganz technologisch gesteuert wird und in der wir
sozusagen Teil einer Fabrik sind, einer großen technologischen Welt. Ich bin
mir nicht sicher, ob wir das als Zukunftsentwurf alle wollen. Also wenn wir
das jetzt so treiben lassen, könnte das passieren, natürlich. Aber ich
glaube, wir sollten uns Gedanken machen, ob wir wirklich da hin wollen. Ich
persönlich muss auch sagen, ich sehe jetzt noch nicht, dass Roboterautos
über die Straßen fahren in Deutschland.

"Aggressionen über Tastenknöpfe abreagieren"

Siniawski: Aber Vorteile hätte es schon: Zum Beispiel aggressives
Fahrverhalten wird domestiziert und falsches Fahrverhalten wird optimiert,
oder?

Lanzendorf: Das ist vielleicht ein Wunschdenken. Warum sollte das so sein?
Vielleicht haben sie ein Programm, das ihnen erlaubt, noch aggressiver zu
fahren. Sie können noch zielgenauer, millimetergenau dort abbremsen, wo sie
stehen wollen, sie können möglicherweise ihre Aggression über Tastenknöpfe
abreagieren. Ich bin mir da nicht so sicher. Das wird oft verteidigt und es
wird gesagt, eine der großen Errungenschaften autonomen Fahrens wird sein,
dass alles sicherer wird. Ich glaube ehrlich gesagt nicht wirklich daran,
dass das per se passieren wird.

Siniawski: Und solche Autos könnten vielleicht auch gehackt werden. Außerdem
sind die Fahrer ja dann vielleicht gläserne Autofahrer.

Lanzendorf: Also das ist für mich eine riesen Dystopie, diese autonomen
Fahrzeuge, die alle Daten senden und es gibt wahnsinnige Gefahren, dass das
von irgendwelchen Viren gehackt wird. Aber auch so, dass die Programme
einfach nicht funktionieren: Wer garantiert denn, dass diese Programme immer
funktionieren? Stellen sie sich einen Blitzeinschlag vor auf der Autobahn
mit Tempo 200, ich weiß nicht genau, was dann passiert.

Also ich glaube, wir müssten uns viel mehr Gedanken darüber machen, wie die
Welt, die Städte aussehen sollen, die wir wollen. Und ich glaube, es genügt
nicht, wenn wir das von den Maschinen her denken. Sondern wir müssen uns
überlegen, wie wollen wir als Menschen in Städten leben? Und dann kommen wir
vielleicht dahin, dass wir sagen, also eigentlich haben wir doch tolle
Mobilität in Städten mit Fahrrad, mit Fußverkehr, mit U-Bahn, mit
Straßenbahn. Brauchen wir denn dann noch die Autos? Brauchen wir den
Individualverkehr, wie wir ihn heute kennen? Also ich glaube, das ist so die
Frage, wo man losstartet, was man sich da wünscht oder nicht wünscht. Für
mich ist das sehr sehr offen, was wünschenswert wäre.

"Technologie muss mit Stadtenwicklung zusammenpassen"

Siniawski: Sie fordern ja ganz offen den Ausstieg von privat genutzten
Automobilen. Warum wollen Sie dem Deutschen sein liebstes Kind wegnehmen?

Lanzendorf: So hart würde ich das nicht formulieren. Es gibt bestimmt
Anwendungen, wo man individuell Pkws nutzen muss, weil das gar nicht anders
geht. Und wir sind ja auch in einer Phase, wo die meisten Leute in
Deutschland das nicht anders organisiert kriegen. Aber wir sind auch in
einer Phase, wo es zunehmend möglich ist, sehr, sehr viel Mobilität ohne
eigenes Auto zu organisieren. Insbesondere, wenn ich Pkws dann nutze, wenn
ich sie brauche, mit Carsharing, mit Mietwagen und so weiter. Das geht in
urbanen Zentren, in Kernstädten momentan viel besser als auf dem Land. Das
ist vollkommen klar, aber wenn wir schon so eine Vision entwerfen, wie
"irgendwann gibt es Fahrzeuge, die so rumfahren", warum soll das nicht auch
Teil des öffentlichen Verkehrs sein? Und warum ist irgendwann den Deutschen
liebstes Kind das Smartphone in der Hosentasche und nicht mehr dieser große
Kasten, der da in den Straßen steht.

Siniawski: Haben Sie ein Beispiel für eine Metropole, wo das schon
ansatzweise gut funktioniert - so eine Vision einer neuen Mobilität?

Lanzendorf: Wir haben diese Entwicklung, dass junge Erwachsene immer weniger
Pkw nutzen. Wir haben das Beispiel Kopenhagen, wo der Fahrradverkehr einen
riesen Anteil hat. Wo die ganze Stadtentwicklung... und das finde ich noch
ganz wichtig zu sagen: Es nützt wenig, nur über Technologie des
Unterwegsseins nachzudenken, sondern das muss natürlich zusammenpassen mit
der Stadtentwicklung, mit der Bevölkerung, die dort lebt, mit den Menschen,
die da leben. Und Kopenhagen ist da so einen Weg gegangen, dier hat das ganz
stark integriert. Ich denke, da kann man sehr, sehr viel in der Stadt mit
dem Fahrrad erledigen oder mit anderen Verkehrsmitteln. Dass man dann
wirklich noch einen Pkw braucht - wozu brauchen wir das? Wir wollen wen
besuchen zu Randzeiten, wo das schlecht funktioniert anders. Wir wollen
einen Ausflug machen, wir wollen in den Urlaub fahren. Das sind dann
Gelegenheiten, die immer weniger und kleiner werden, wo man das mit
Leihwagen und Carsharing machen kann. Also ich denke, in einer Stadt wie
Frankfurt, in Berlin, in München, in Hamburg können Sie das mit Sicherheit
schon in großem Maße tun, und viele Menschen leben ja schon ohne Pkw. Es
gibt viele Haushalte, die ohne Pkw leben.

"E-Motoren bieten keine Lösung für gesellschaftliche Probleme"

Siniawski: Aber was bedeutet das für die Stadtplanung? Auch wenn Länder wie
etwa Großbritannien, Frankreich oder Norwegen in den kommenden Jahrzehnten
den Verbrennungsmotor komplett verbieten wollen, wie müssen sich die Städte
darauf vorbereiten?

Lanzendorf: Es gibt verschiedene Formen der Vorbereitung. Wir können
natürlich davon ausgehen: Alles bleibt so, wie es ist und es werden nur
elektrische Motoren werden und dann sind wir glücklich. Aber es ist ja nicht
so, dass nur die Luftverschmutzung das einzige Problem ist, das wir mit dem
Verkehr haben. Sondern wir haben Staus, wir haben Lärmbelästigung, wir haben
Flächenverbrauch. Letztens hat jemand gesagt: Spielplätze statt Parkplätze
oder Parks statt Parkplätze.

Wir haben also nicht nur das Problem mit fahrenden Fahrzeugen, sondern wir
haben auch das Problem, dass diese Automobile, wie wir sie kennen, die
Städte vollkommen dominieren. Dass die Stadtentwicklung in engen Grenzen
ist, wenn wir die Städte genau so haben, wie sie heute sind. Ich glaube, es
gibt mittlerweile eine Fülle von Initiativen, die sagen: Lasst uns doch
Städte so bauen, dass wir dort als Menschen, indem wir durch die Straßen
gehen, indem wir Fahrradfahren, viel mehr davon haben, als dass wir diese
Flächen opfern für Fahrzeuge, die im Wesentlichen 23 von 24 Stunden nur
herumstehen.

"The toys of little boys"

Siniawski: Viele denken bei zukunftsorientierten Autos an den US-Hersteller
Tesla, ein Unternehmen, das Ökonomie und Fahrspaß vereinen will, mit dem
neuen Modell 3 auch für weniger Geld. Aber dennoch: Wenn man sich das Design
der Tesla-Autos anguckt, knüpfen sie weiterhin an das klassische Bild eines
Sportautos an: aufgemotzt, PS-betont. Ist das nicht eher die Wiederholung
der alten Ideale im E-Zeitalter?

Lanzendorf: Auf jeden Fall. Ich glaube, dass das auch etwas ist, was man auf
der IAA so mitbekommt. Man muss sich nur diese ganzen Werbungen anschauen
für die SUVs. Ich habe immer so einen Spruch im Kopf zu Automobilen, die
diese Emotionen hochsetzen. Und bei der IAA fällt mir das Jahr für Jahr
immer wieder auf: So ein bisschen, the toys of little boys. Die Spielzeuge,
mit denen wir uns da beschäftigen, die natürlich eine wahnsinnige
Marktdurchdringung haben, die Wirtschaftskraft und was weiß ich alles, was
sich da hinter verbirgt. Aber ich finde, das ist erst mal keine Lösung, das
ist keine Lösung für gesellschaftliche Probleme.

Siniawski: Martin Lanzendorf, Mobilitätsforscher an der Universität
Frankfurt am Main, vielen Dank für das Gespräch!

Lanzendorf: Ja, vielen Dank Ihnen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder.
Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in
Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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[1] http://www.uni-frankfurt.de/45697155 




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