Deutsche Welle
https://www.dw.com/de/neuston-plastikflut-bedrohung-meer/a-54524672

16.08.2020 

Plastikmüll im Meer: Zerstören Auffangnetze eines der rätselhaftesten
Ökosysteme des Ozeans?

Meeresbiologen sehen die Organismen an der Meeresoberfläche in Gefahr. Denn
das Neuston, wie die oberste Gewässerschicht heißt, könnte zusammen mit dem
Plastikmüll in den Fangvorrichtungen der Umweltunternehmer landen

UTE EBERLE

Welch eine Pracht! Im Mai 2017 färbte sich die ligurische Küste in Italien
in zartem Lila. Das Meer hatte kleine violette Schnecken angespült. Ihr
lateinischer Name: Janthina Pallida. An Land sind die Veilchenschnecken nur
selten zu sehen. Immer und immer wieder wurden sie angeschwemmt, sodass sich
dadurch ganze Strandabschnitte pastell einfärbten.

Ungewöhnliche Windkonstellationen hatten dafür gesorgt, dass die Tiere
angespült wurden. Die Spaziergänger am Ufer hatten dadurch die seltene
Gelegenheit ein wundersames Ökosystem zu erblicken. Die meisten von uns
haben wohl noch nie etwas davon gehört: Das Neuston.

Zwischenwelt

Neuston kommt aus dem Griechischen und bedeutet "das Schwimmende". Es
bezeichnet die Gesamtheit der Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen, die ihr
ganzes Leben oder zumindest große Teile davon in den oberen Zentimetern der
Wasseroberfläche verbringen. Das Neuston wird auch "blaue Flotte" genannt.

Es ist eine geheimnisvolle Welt mit vielen Unbekannten, selbst für Experten.


Im Neuston der Ozeane leben Unmengen an seltsamen und auch wunderschönen
Kreaturen - so wie die Portugiesische Galeere. Sie sieht aus wie eine
Qualle, besteht jedoch aus einer Kolonie unzähliger Polypen. Die Tentakel
können bis zu 30 Meter lang werden. Mit ihrem Nesselgift tötet sie kleine
Fische und andere Beutetiere. Ihre bläulich schimmernde Farbe dient
wahrscheinlich dem Schutz vor der UV-Strahlung der Sonne oder als Tarnung
vor Feinden.

Auch die Segelqualle ist im Neuston zu Hause. Ganz flach liegt sie wie ein
Floß, geschützt in einem Chitingebilde im Wasser, mit einem kleinen Segel
oben auf.

Oder aber der blaue Drache: Die Ozeanschnecke kann sich dank ihrer Auswüchse
von unten bäuchlings an die Wasseroberfläche heften. Auch Seeanemonen,
kleine Krebse und Bakterien leben hier, genauso wie die einzigen
Meeresinsekten - Verwandte des Teichläufers. 

All die kleinen Organismen leben "zwischen den Welten", also zwischen Himmel
und Meer. So formuliert es der Meeresbiologe Fredico Betti von der
Universität Genua. Unten im Meer lauern die natürlichen Fressfeinde, von
oben brennt die Sonne. Der Wind und die Wellen treiben die "blaue Flotte"
umher. So ist ihre Umgebung je nach Wetter mal wärmer oder kühler; mal
salzhaltiger oder weniger salzig.

Nun könnte eine weitere Bedrohung durch den Menschen hinzukommen. So plant
das Projekt The Ocean Cleanup riesige Fangvorrichtungen, die Abfälle aus dem
Meer holen sollen. Dahinter steht der niederländische Erfinder Boyan Slat.
Er hat mehrere Millionen Dollar an Spenden und Sponsorengeldern
eingesammelt, um lange Sperren mit Netzen zu errichten. Die sollen den
schwimmenden Plastikmüll aus dem Meer abschöpfen.

"Bis 2050 könnte es mehr Plastik in den Ozeanen geben als Fisch. Diese
Zukunft ist für uns inakzeptabel," steht auf der Homepage von The Ocean
Cleanup geschrieben. 

Immer mit der Strömung

Doch Rebecca Helm ist voller Sorge. Die Meeresbiologin von der University of
North Carolina ist eine von wenigen Wissenschaftlern, die rund um das Thema
Neuston forscht. Sie fürchtet, dass die Idee von The Ocean Cleanup, 90
Prozent des Plastikmülls aus dem Wasser zu holen, auch "die blaue Flotte"
nahezu auslöschen könnte.

Der Grund für ihre Annahme: In ihrer Forschung untersucht sie, wo genau sich
die Organismen ansammeln. "Es gibt Gebiete mit einer sehr hohen
Konzentration und einige Regionen mit geringeren Vorkommen. Wir versuchen
herauszufinden, warum das so ist", sagt Helm.

Fakt ist, dass sich das Neuston mit der Meeresströmung bewegt. Helm
befürchtet nun, dass es sich an den gleichen Stellen sammeln könnte, wie der
Plastikmüll. "Unsere ersten Daten zeigen, dass in Gebieten mit großen Mengen
Plastikmüll auch die Konzentration von lebenden Organismen groß ist." The
Ocean Cleanup hingegen meint, die Bedenken der Wissenschaftlerin basieren
auf falschen Annahmen.

"Es ist richtig, dass auch neustonische Organismen mit den Fangvorrichtungen
eingesammelt werden", sagt Gerhard Herndl. Er ist Professor für
Meeresbiologie und -ökologie an der Universität Wien. Und er ist
wissenschaftlicher Berater des Projekts. 

"Aber diese Organismen haben ein gefährliches Leben. Die Populationen sind
an hohe Verluste angepasst. Durch Stürme zum Beispiel, bei denen regelmäßig
große Mengen an Organismen an Land gespült werden. Die Reproduktionsraten
sind daher hoch. Wenn das nicht so wäre, wären sie bereits ausgestorben."

Helm hingegen sagt, sie wüssten einfach nicht, wie schnell sich diese
Kreaturen fortpflanzen. Auf jeden Fall erholt sich das Neuston nach einem
Sturm eher, als von den technischen Fangvorrichtungen von The Ocean Cleanup,
die jahrelang in Betrieb sein könnten. 

Gesprächsabbruch

Im Dezember hatte The Ocean Cleanup Helm zu einem Symposium zu diesem Thema
eingeladen. Beide Seiten haben ihre Ansichten dargelegt, aber auf einen
gemeinsamen Nenner sind sie nicht gekommen. Seitdem ist die direkte
Kommunikation zum Erliegen gekommen, sagt Helm. "Sie sind nicht mehr daran
interessiert, mit mir zu reden." 

Unstrittig für beide Seiten ist, dass man noch immer wenig über das Neuston
weiß. Fest steht jedoch, dass die meisten Ozeanfische einen Teil ihres
Lebens im Neuston verbringen. "Mehr als 90 Prozent der Meeresfischarten
legen schwimmende Eier ab. Bis zum Schlüpfen bleiben sie an der Oberfläche",
sagt Betti. 

The Ocean Cleanup hat 2019 während einer Expedition zum Great Pacific
Garbage Patch eine der wenigen Studien zum Neuston durchgeführt. In diesem
riesigen pazifischen Müllstrudel wurden Daten über die Häufigkeit von
Plastikmüll im Verhältnis zu den Organismen des Neustons gesammelt. Bis
heute sind die Ergebnisse nicht veröffentlicht. Noch würden die
Informationen für die Publikation in einem Fachjournal aufbereitet. Der
Veröffentlichungszeitpunkt ist wahrscheinlich im nächsten Jahr, sagt ein
Sprecher von The Ocean Cleanup. 

Liegt die Lösung an Land?

Helm glaubt, dass die Barrieren zum Einsammeln des Plastikmülls eher an Land
installiert werden sollten - an Flussmündungen oder Buchten. So könnte man
den Müll auffangen, bevor er in die Ozeane gelangt.

"Den Nachschub von Plastik in die Ozeane zu stoppen, ist die
kostengünstigste  und sicher auch die effektivste Methode, wenn man
erreichen will, dass dieser Müll nicht in unsere Umwelt gelangt", sagt sie.
Was das Plastik betrifft, das bereits auf offener See schwimmt, glaubt sie
nicht, dass es sich lohnt, für dessen Beseitigung Teile des Neustons zu
opfern. Hier will sie erstmal entsprechende Forschungsergebnisse sehen.

Erst vor kurzem hat The Ocean Cleanup ein neues Projekt gestartet. So wollen
die Umweltunternehmer den Plastikmüll bereits aus den großen Flüssen
filtern, bevor er ins offene Meer gelangt. 

The Ocean Cleanup hält aber auch weiter an seinem Projekt auf dem offenen
Meer fest. So wurde im vergangenen Jahr eine 600 Meter lange Fangvorrichtung
in das Great Pacific Garbage Patch eingesetzt. Die Stoffbahnen daran reichen
drei Meter unter die Wasseroberfläche. Das ist der Bereich, in dem besonders
viel Plastik schwimmt. Aber das Projekt lief nicht wie geplant. Es wurde
weniger Plastik geborgen als erhofft. Für Reparaturen und auch für eine
Optimierung der Anlage wurde sie nun an Land gebracht. Das Plastik, das The
Ocean Cleanup damit aus dem Meer geborgen hat, soll recycelt und verkauft
werden. Mit dem Erlös sollen künftige Projekte finanziert werden.

The Ocean Cleanup hofft, in den nächsten zwei Jahren bis zu 60 solcher
Barrieren zum Auffangen von Treibgut einsetzen zu können. Helm ist nicht die
einzige Wissenschaftlerin, die sich deswegen Sorgen macht.

"Wir sollten über jede Aktion, die wir im Meer unternehmen, zweimal
nachdenken", sagt Betti. "In der Natur ist nichts so einfach, wie wir
denken, und oft haben wir viel Schaden angerichtet, während wir versucht
haben, etwas Gutes zu tun", sagt Betti.


° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° 

Ende der weitergeleiteten Nachricht. Alle Rechte bei den AutorInnen. 
Unverlangte und doppelte Zusendungen bitte ich zu entschuldigen! 
Das gelegentliche Versenden von E-Mails durch mich ist eine rein private
und persönliche - und niemals berufliche oder wirtschaftliche - Tätigkeit.
Ich nutze Ihre E-Mail-Adresse für keine anderen Zwecke und speichere
keine weiteren Daten außer dem zugehörigen Namen/Organisation.
Ich gebe niemals Daten weiter und lösche auf jede Bitte sofort.
Adresse löschen: mailto:greenho...@jpberlin.de?subject=unsubscribe 

° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° 

Mika Latuschek
greenho...@jpberlin.de

Twitter, RSS-Feed, Mailingliste*:
http://twitter.com/greenhouse_info
http://tinyurl.com/rssfeed-greenhouse
... und filtern ("atom", "meer", "wald", ...) mit www.feedrinse.com/tour
http://listen.jpberlin.de/mailman/listinfo/greenhouse-info

Hosted by the political provider JPBerlin of Heinlein-Support
www.jpberlin.de

* Datenschutz nach DSGVO bei JPBerlin:
www.heinlein-support.de/datenschutz




_______________________________________________
Pressemeldungen mailing list
Pressemeldungen@lists.wikimedia.org
https://lists.wikimedia.org/mailman/listinfo/pressemeldungen

Antwort per Email an