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03.11.2020

Weidende Kühe sind kein Problem

Von Onno Poppinga*

So einhellig wie die wissenschaftliche Auffassung, dass die Klimaerwärmung
Mitte des 19. Jahrhunderts begann, so einhellig ist auch die Annahme, dass
dieser Vorgang aufs engste mit dem Prozess der Industrialisierung verknüpft
ist. Die historischen Quellen der Klimaveränderungen sind dabei vor allem
die Nutzung der fossilen Energiequellen (Steinkohle, Braunkohle, Öl, Gas)
und die starke Zunahme bei der Verwendung von Mineralien (z. B. verschiedene
Erze und auch andere bergbaulich gewonnene Stoffe). Viele einflussreiche
zeitgenössische Ökonomen - von Albrecht Daniel Thaer bis zu Karl Marx -
gingen davon aus, dass wie selbstverständlich nicht nur das Gewerbe, sondern
auch die Landwirtschaft sich durch die Industrialisierung zu einer
kapitalistischen Agrarindustrie entwickeln würde, die mit industriellen
Prozessen und in großen Strukturen wirtschaften würde. Das war aber
mitnichten der Fall. Stattdessen entwickelte sich eine Struktur, die ein
Agrarsoziologe ein Jahrhundert später als "die jahrzehntelange Symbiose von
kapitalistischer Industrie und bäuerlich-handwerklicher Gesellschaft"
bezeichnete.

Acker, Grünland, Nutztiere

Wenn die Industrialisierung die Quelle der Klimaveränderungen ist, dann war
die Landwirtschaft bis zu Beginn der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts daran
nicht beteiligt. Bis zu diesem Zeitraum waren die bodengebundene
Tierhaltung, die Futtergewinnung und die Düngung nicht mit einem relevanten
Zuwachs der Abgabe von Methan in die Atmosphäre verbunden. Die
Ertragszuwächse, die es erfreulicherweise gab, waren das Ergebnis
optimierter biologischer Prozesse und nicht des Zukaufs fossiler Energie. Im
Hinblick auf die Frage nach dem Anteil der Landwirtschaft an der
Klimaveränderung kann man die mit der damaligen Tierhaltung verbundenen
Mengen an Methan deshalb als "Grundlinie", als "Nullpunkt" ansehen. Es ist
davon auszugehen, dass diese Mengen immer entstehen werden, solange
Ackerland, Grünland und Nutztiere die Grundlage der menschlichen Ernährung
bilden.

Der Flächenanteil der Futter- wie auch der Körnerleguminosen ging ab den
1950er Jahren schnell zurück. Das Zusammenwirken von intensivierter
mineralischer Düngung und neu entwickelten Pestiziden ermöglichte auch ohne
Leguminosenanbau hohe und sichere Erträge auf den Äckern (im Gebiet der
ehemaligen DDR wurde dieser Vorgang erst in den 90er Jahren abgeschlossen).
In der Folge kam es, wenn auch erst nach mehreren Jahren, zu einer
Verschlechterung der Bodenfruchtbarkeit (weniger Humus; Verringerung des
Porenvolumens). Dadurch konnte es in den Ackerböden häufiger zu
reduzierenden Bedingungen und damit zur Freisetzung von Stickoxiden kommen.
Durch die zunehmend schwerer werdende Landtechnik wurde das Problem noch
verstärkt.

Die Nutzung der Moore zur Energiegewinnung wurde genauso beendet wie das
tiefe Umpflügen. In den 60er Jahren wurden durch die Agrarkulturverwaltungen
der Bundesländer allerdings intensive Meliorationsmaßnahmen veranlasst, die
die Vorfluter stark vertieften. Ziel dieser Maßnahme war, durch Absenken des
Grundwasserspiegels die Voraussetzungen für eine motorisierte
Bodenbearbeitung zu verbessern und den Umbruch von Grünland zu erleichtern.
Das führte zur Entwässerung von Mooren und von anmoorigen Böden mit der
Folge einer starken Freisetzung von Methan. Im Gegensatz zur (extensiven)
Nutzung anmooriger Flächen als Grünland führt die Ackernutzung zu Humus- und
Methanverlusten über einen langen Zeitraum und in sehr großem Umfang.

Grünland zu Acker

Die sichere Möglichkeit, Ackerbau auf hohem Ertragsniveau ohne Anbau von
Leguminosen durchzuführen, ermöglichte die Abschaffung der Viehhaltung und
die Bildung von "reinen" Ackerbaubetrieben. Durch die Motorisierung und die
Abschaffung der Zugtiere wurde auch das bisher für sie erforderliche
Grünland für andere Nutzung frei. Folge war ein wirklich massiver Umbruch
von Grünland. Gab es auf dem Gebiet der Bundesrepublik (bis 1990 BRD und
DDR) 1950 ca. 7 Millionen Hektar Grünland, waren es 2015 nur noch 4,7
Millionen Hektar. Eine sehr wichtige zusätzliche Beschleunigung des Umbruchs
erfolgte durch die EU-Agrarpolitik, die von 1993 bis 2005 den Anbau von
Silomais mit hohen Beträgen förderte, die Nutzung von Grünland dagegen
nicht.

Grünlandumbruch ist immer gleichbedeutend mit einem starken Verlust an Humus
(Größenordnung 100 Tonnen organische Substanz je Hektar). Damit einher gehen
starke Nitratauswaschungen und Methanfreisetzungen und das über einen
Zeitraum von vielen Jahren. In die gleiche Richtung - wenn auch wohl nicht
ganz so verheerend - wirkte sich der von der Beratung empfohlene regelmäßige
Grünlandumbruch mit folgender Neuansaat aus. Aus standortabhängigen, in
ihrer Artenzusammensetzung sehr vielseitigen und ertragssicheren
Grünlandflächen wurde so ein einförmiges Vielschnittgrünland mit geringer
Biodiversität und geringer Nutzungselastizität, aber höheren Masseerträgen.

Grundlegend an den Veränderungen in der Viehhaltung im Prozess der
Industrialisierung war ohne Zweifel, dass die Zahlen für die Rinder
insgesamt nur moderat zunahmen, die für Kühe, Schafe und besonders Ziegen
sogar abnahmen, die Zahlen für Schweine und für Geflügel dagegen geradezu
"explodierten".Während bei den Wiederkäuern - den Tieren also, die über ihr
Verdauungssystem zellulosereiche Pflanzen aufschließen können und dabei auch
Methan ausatmen - wenig Zunahme erfolgte, gab es bei der
"flächenungebundenen Veredelung" dramatische Zuwächse. Schweine und Geflügel
geben zwar direkt nur wenig Methan ab, ihre Ausscheidungen als Gülle, Jauche
oder Stallmist dagegen sehr wohl.

Rinder

In der Rinderhaltung gab es unterschiedliche Entwicklungen. Während die
Fütterung bei den Milchkühen stark intensiviert wurde (starke Erhöhung des
Kraftfuttereinsatzes; Erhöhung der Rohprotein- und Energiegehalte im
Grundfutter) entwickelte sich neu die Mutterkuhhaltung mit ausschließlicher
Grundfutterversorgung. Durch die Ausrichtung der Zucht auf immer höhere
Milchleistungen wurden die Kühe deutlich größer und schwerer. Infolge dieser
"Rahmenerweiterung" erhöhten sich die aufgenommenen Mengen an Futter
erheblich (von ca. 12 bis 15 kg TM Tag auf 20 bis 25 kg TM). Die
Milchleistung pro Kuh stieg - für den Durchschnitt aller spezialisierten
Milchviehrassen und Doppelnutzungskühe - von 2.725 kg 1951/52 auf 7.780 kg
2017. Mit Blick auf die mit der stark erhöhten Futteraufnahme pro Kuh
notwendigerweise einhergehenden zunehmenden Menge an ausgeatmetem Methan ist
zu beachten:

* Kraftfutter verdrängt Grundfutter. Da aber die Methanbildung bei dem
zellulosereichen Grundfutter höher ist als bei dem stärkereichen
Kraftfutter, ist die Zunahme an Methan bei der Intensivierung der Fütterung
geringer als die Zunahme der Futtermengen pro Kuh.

* Da das Futter auf dem Grünland immer früher und häufiger geschnitten
wurde, enthielt (und enthält) es weniger Gerüstsubstanz und ist leichter
verdaulich (schnellere Passagerate).

* Mit dem starken Anstieg der Futtermenge je Kuh ging auch ein starker
Anstieg der Menge an Gülle (bzw. Stallmist) einher. Grob lässt sich
abschätzen, dass die Erzeugung von 1 kg Milch notwendigerweise von 3 Litern
Gülle begleitet wird. Das heißt, der Gülleanfall je Kuh stieg von 8.000
Litern 1951/52 auf 23.000 Liter 2017.

Durch die "Verdichtung" der Nährstoffe im Futter nahmen die Gehalte an
Stickstoff (bzw. Protein), Phosphor usw. in der Gülle deutlich zu, so dass
die mögliche Freisetzungsrate von klimawirksamen Gasen deutlich anstieg.

Diese Intensivierung der Milchviehhaltung ist die Folge einer Agrar- und
Wirtschaftspolitik, die über Jahrzehnte genau das zum erklärten Ziel hatte.
Übergeordnetes Ziel war es, über eine Steigerung der Produktivität die
Voraussetzung für niedrige Lebensmittelpreise im Inland und für gute
Exportchancen auf Drittlandsmärkten zu schaffen. Funktion der Überschüsse -
die von Beginn der EU-Milchmarktordnung an die Verhältnisse prägten - war
es, für eine ständige Steigerung der Produktivität als Antwort auf niedrige
Auszahlungspreise zu sorgen. Wichtige Schritte in diesem Zusammenhang waren
der Bau neuer Laufställe für die Kühe und der Übergang von der Stallmist-
zur Güllewirtschaft. Mit Blick auf Methan- und Ammoniakfreisetzungen hatte
das erhebliche Konsequenzen. Während bei der Anbindehaltung Kot und Harn in
einer schmalen Rinne gesammelt und - weitgehend - getrennt gelagert werden
(in der Jauchegrube und auf dem Misthaufen), fallen im Laufstall - mit
Ausnahme der wenigen eingestreuten Laufställe - Kot und Harn als Gemisch an,
eben als "Gülle". Hinzu kommt, dass im Laufstall Kot und Harn auf eine viel
größere Fläche (gegenüber der Kotrinne) verteilt werden. Die Begünstigung
der Entstehung von Methan und Ammoniak setzt sich bei der Lagerung fest.
Während im gestapelten Mist (zumeist) ein Rest an Sauerstoff vorhanden ist
und eine Milchsäuregärung verursacht (mit erheblichen CO2-Freisetzungen),
finden bei der Lagerung der Gülle überwiegend anaerobe Prozesse statt.

Obwohl sehr viele Fragen zur Messung von Methanentstehung bei der
Milchviehhaltung noch offen sind oder kontrovers diskutiert werden, haben
große Molkereiunternehmen wegen des großen öffentlichen Interesses an der
Klimadiskussion bereits damit begonnen, das Thema für ihre
Marketinginteressen zu nutzen. So fördern sie diejenigen ihrer Lieferanten,
die für ihren Betrieb einen "ökologischen Fußabdruck" berechnen lassen.
Dabei lässt jede Molkerei anders rechnen; die Werte sind nicht vergleichbar.
Die Ergebnisse werden stets nur als "CO2-Äquivalent je kg Milch" angegeben.
Das führt natürlich zu einer sehr einseitigen Sichtweise, korrespondiert
aber mit dem Eigeninteresse der Molkereien an Lieferanten, deren Kühe eine
hohe Milchleistung haben und die Herden mit sehr großen Kuhzahlen aufgebaut
haben. Das Konstrukt "je kg Milch" entfaltet also weiter seine
propagandistische Wirkung.

Schlussbemerkung

Die Einführung einer "Grundlinie" für den Methananfall einer Milcherzeugung,
die flächengebunden ist (ob in Form einer "bäuerlich-handwerklichen
Gesellschaft" oder in einer anderen Form), eine Menge, die immer anfallen
wird, solange Grünland und Feldfutterbau weltweit wichtige Grundlagen der
menschlichen Ernährung sind, ist dringend erforderlich - aber noch nirgends
zu erkennen. Sie würde einerseits die sachlich unangemessenen Anforderungen
der Politik an die milcherzeugenden Betriebe hinsichtlich der Reduzierung
der klimawirksamen Gase senken, andererseits den notwendigen Zusammenhang
mit den Folgen der Industrialisierung der Landwirtschaft herstellen und
zugleich die "Köpfe freimachen" für ein Nachdenken über eine Landwirtschaft,
die sich durch positive Umweltwirkungen auszeichnet.

Der vollständige Text steht zum Download bereit.
www.bauernstimme.de/uploads/media/Weidende_Kühe_sind_kein_Problem.pdf 

* emeritierter Professor für Agrarpolitik an der Universität Kassel und
Mitgründer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL)


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