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-nahen-Zeit

 

29. Juni 2017 

 

Industriestaaten: Auf den Knall nicht vorbereitet

 

Ein langjähriger Umweltaktivist rechnet in einem Roman mit Umweltschützern
und Entwicklungshelfern ab. Sie agierten zu punktuell

 

Tobias Tscherrig 

 

Stefan Frey (1952) engagiert sich aktiv in Projekten für Kultur, Umwelt und
Entwicklung. Er arbeitete - sowohl in der Schweiz als auch in Madagaskar -
während zehn Jahren für den WWF. Seit 2012 ist Frey als Medienarbeiter für
die Schweizerische Flüchtlingshilfe tätig. Jetzt beschreibt Frey im Roman
«Der Abgang - Bericht aus einer nahen Zeit» wie in der Schweiz eine
totalitäre Gesellschaft möglich wird. Das Szenario wirkt düster. Infosperber
wollte vom langjährigen Umweltaktivisten wissen, wie er zu seiner
Einschätzung kommt.

 

Vom Umwelt-Lobbyisten zum Romanschreiber. Wie das?

 

Stefan Frey: Im konkreten Fall wollte ich ein Szenario auflegen und mit
einer gewissen Stringenz belegen, dass auch die an sich offene Gesellschaft
in der Schweiz Gefahr läuft, totalitären Ansätzen zu erliegen. Ich habe
versucht, diese Ansätze zu Ende zu denken. Groteske und Satire sind dabei
die wesentlichen Stilmittel.

 

Während eineinhalb Jahren schrieben Sie an «Der Abgang - Bericht aus einer
nahen Zeit». Entstanden ist ein Buch à la Orwells «1984». War das wirklich
nötig?

 

Ja. Ich beobachte und stelle fest: Unser Leben wurde materialisiert und
monetarisiert bis ins Detail, Konsum ist Ersatz-Glaube. Wirtschaft und
Konsum wurden globalisiert, nicht aber die Solidarität. Wenn nur noch
materielle Dinge zählen, schwindet die Menschlichkeit und die Gesellschaft
wird anfällig für totalitäre Tendenzen.

 

Sie malen den Teufel an die Wand.

 

Die aktuelle Entwicklung gibt mir recht. Im Internet geben die meisten
Menschen ihre Privatsphäre vollständig auf. Man denkt, das sei die Freiheit,
dabei ist jeder User nur Teil globaler Geschäftsmodelle. Wenn sich die
politische Macht mit diesen Monopolen zusammentut, und das ist ein
grundlegender Gedanke im Buch, wird es brandgefährlich.
Informations-Monopole sind in den Händen von Machthabern Zeitbomben für die
Demokratie. Wer nur noch häppchenweise und nach dem Gusto der Mächtigen
informiert ist, wird manipulierbar. Ich befürchte, dass das auch in der
Schweiz möglich wäre. Das ist die These in meinem Buch.

 

Die gigantischen Internet-Konzerne bezeichnen Sie in Ihrem Buch als
«AGFA-Kartell». Beim Beschrieb der Populisten drängen sich Parallelen zur
SVP auf.

 

Die Geschichte im Buch ist frei erfunden. Die SVP ist für mich nicht
wichtig. Was für mich zählt, ist die Methode der Populisten. AGFA steht für
Apple-Google-Facebook-Amazon.

 

Wie sieht diese Methode aus?

 

Populisten bewirtschaften die Ängste der Menschen und transportieren so
mithilfe gleichgeschalteter Medien ihre Botschaften. Interessant sind aber
diejenigen, die den Populisten zur Macht verhelfen. Gemässigte Politiker,
die fürchten, ihre Brosamen an der Macht zu verlieren, wenn sie nicht auch
extrem werden.

 

Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage in der Schweiz?

 

Ich bin nicht wirklich optimistisch. Wirtschaftlich geht es uns zwar gut,
wenn aber die riesigen Schuldenberge, die sich weltweit auch wegen der
Geldschöpfung der Banken angehäuft haben, zusammenbrechen, wird es zu einem
Erdbeben kommen, das auch die Schweiz erschüttern wird. Auf diesen
Krisenfall sind wir nicht vorbereitet, wir haben keine solidarische
Gesellschaft als Schutzschild. Wir brauchen ein «Basta-Modell», das das
Genug in den Mittelpunkt stellt, den Konsum und die Mär vom ewigen Wachstum
bekämpft.

 

Sie sind ein Träumer.

 

Die eigentlichen Träumer sind die Wachstums-Apostel. Sie unterliegen dem
Irrtum, dass Wachstum der wichtigste Faktor zur Beurteilung einer
Gesellschaft ist. Drei Prozent Wirtschaftswachstum bedeuten eine
Verdoppelung aller Güter und des dafür notwendigen Rohstoffverbrauchs innert
23 Jahren. Macht Wachstum glücklich? Heute sind wir nicht glücklicher als in
der Vergangenheit - obwohl wir den zig-fachen Aufwand betreiben.

 

Was verstehen Sie unter Wachstum?

 

Zum Beispiel Wachstum der Bevölkerung. Nehmen wir das Beispiel Afrika. Die
Bevölkerung wächst jedes Jahr um rund drei Prozent. Diese Menschen werden in
vielen Ländern von Despoten gewalttätig und gegen jedes Menschenrecht
regiert. Wir reagieren mit öffentlicher Entwicklungshilfe, bei der jede
Investition fehl geht und direkt in die korrupten Systeme fliesst. Die Folge
sind Kriege und Flüchtlinge. Dann das Wirtschaftswachstum oder vielmehr der
Lebensstil in den reichen Industriestaaten. Eine Folge davon ist der
Klimawandel und noch mehr Flüchtlinge, denn die Auswirkungen treffen vor
allem arme Länder.

 

Sie halten die öffentliche Entwicklungshilfe also für gescheitert?

 

Würde sie funktionieren, müsste es längst rund achtzig Prozent der
afrikanischen Bevölkerung besser gehen. Das Paradoxe daran: Es gibt
unzählige gute Projekte von NGOs und Privatpersonen. Diese haben allerdings
keine Chance, die Makro-Ebene und damit ganze Bevölkerungen zu erreichen.
Wir brauchen nicht mehr Entwicklungsgelder, wir müssen diese effizienter
einsetzen. Es braucht direkte Investitionen in saubere Organisationen.

 

Auch die Natur und der Umweltschutz spielen in Ihrem Buch eine Rolle.

 

Die Klimaerwärmung wird von den Totalitären zuerst geleugnet und dann als
Möglichkeit genutzt, die Bevölkerung zu disziplinieren und zu kontrollieren.
Das heisst: Reale Probleme werden als Hülle genutzt, um ganz andere Ziele
anzustreben.

 

Sprechen Sie aus Erfahrung? Immerhin arbeiteten Sie während zehn Jahren beim
WWF.

 

Blicke ich auf diese Zeit zurück, habe ich in der Tat den Eindruck, dass wir
nichts erreicht haben.

 

Also sind Sie frustriert, deshalb haben Sie das Buch geschrieben.

 

Nein. Persönlich durfte ich einige Erfolge feiern, etwa bei meinen Projekten
in Madagaskar oder beim «Energiestadt-Label», bei dessen Initiierung ich
dabei war. Trotzdem ist mein Fazit düster: Ich sehe die Zubetonierung der
Landschaft, den sorglosen Umgang mit dem Verkehr, den Flugverkehr, der
stetig zunimmt und doch nicht besteuert wird. Das alles sind Indizien, die
zeigen, dass der Umweltschutz in jedem Staat letztendlich nur eine
untergeordnete Rolle spielt.

 

Der Umweltschutz als Farce?

 

Richtig. Noch in den 80er-Jahren war die Bereitschaft, diese Thematik im
Hinblick auf Verhaltensänderungen zu diskutieren, viel grösser. Dann fiel
die Berliner Mauer und brachte andere Dynamiken ins Spiel: Der Konsum wurde
zur Weltreligion, die Wachstumspolitik wurde zur Globalisierung. Da bleibt
kaum Platz für den Schutz der Umwelt. Ausserdem verlor die Umweltbewegung in
den 80er-Jahren ihre politischen Köpfe.

 

Was ist mit der Grünen Partei der Schweiz und den zahlreichen NGOs?

 

Die Grünen sind viel zu zahm und feiern bereits die kleinsten Zugeständnisse
des Systems als Erfolge. Ein Gegenentwurf zum Wachstumsdogma fehlt. Die
früher politische Umweltbewegung hat sich in den Bio-Laden verzogen.

 

Sie kritisieren die aktuelle Umweltpolitik der Schweiz. Der Bundesrat will
die Treibhausgasemission der Schweiz bis 2030 um 30 Prozent unter das Niveau
von 1990 senken.

 

Das ist lächerlich. Erneut wird das Problem um Jahrzehnte in die Zukunft
verschoben. Politiker gaukeln eine Lösung vor, die Bevölkerung wähnt sich in
Sicherheit. Das Problem wurde ja scheinbar angegangen und diskutiert. Eine
Lösung werde umgesetzt, heisst es. Wir belügen uns selber. Auch NGOs feiern
die marginalen Zielsetzungen des Abkommens als Erfolg. Das ist
unverständlich.

 

Immerhin hat die Schweiz das Pariser Klimaabkommen ratifiziert. Die USA sind
erst vor Kurzem mit der Begründung ausgestiegen, das Abkommen sei ungerecht,
die Reduktion der Treibhausgase würde zu viel kosten.

 

Nun, die Schweiz weist die höchste Ölheizungsdichte in Europa auf, die
verschwenderischste Automobilflotte und enorm viel Schaden-Potenzial in der
Landwirtschaft. Die Schweiz könnte viel mehr machen, als im Abkommen
festgelegt wurde. Und zu Trump: Sein Entscheid spielt im Übrigen auch
denjenigen in die Hände, die dem Klimawandel kritisch gegenüberstehen und
die USA als Vorbild betrachten. In der Schweiz trifft dieses Profil etwa auf
SVP-Nationalrat Roger Köppel zu. Bei uns gibt es immerhin noch freie Medien,
die dieses Bild widerlegen können. In anderen Ländern werden solche
Meinungen nicht gekontert.

 

Wie passt Donald Trump in Ihr Buch, in Ihr Szenario einer totalitären
Gesellschaft?

 

Er passt gut zur Geschichte, auch wenn er darin keine Rolle spielt.
Vielleicht ist Trump, genau wie andere konservative Herrscher mit Hang zum
Totalitarismus, für die Menschheit aber auch ein Glücksfall: Die
Vernünftigen müssen sich nun zusammenraufen und eine wirksame Gegenbewegung
installieren. Auch und vor allem gegen die Mini-Trumps.

 

Was müsste geschehen, damit Ihr Buch Utopie bleibt?

 

Wir müssen aufpassen, dass wir nicht die letzten freien Medien verlieren.
Wir brauchen differenzierte Informationen. Heute wissen scheinbar alle über
alles Bescheid. Und keiner versteht etwas. Es braucht professionelle und
unabhängige Berichterstattung, das ist ein wichtiger Eckpfeiler jeder
Demokratie. Wir müssen lernen, mit dem Internet richtig umzugehen, ausserdem
müssen wir unsere Erkenntnisfähigkeit zurückgewinnen und aus Fehlern lernen.
Wir müssen aufhören, mit Scheinlösungen auf Probleme zu reagieren. Ausserdem
muss die Weltgemeinschaft zusammenfinden und sich einig werden, dass die
Solidarität mit Mensch und Umwelt globalisiert werden muss. Wir brauchen
eine demokratische Wirtschaftswelt.

 

Und die Alternative? Der grosse Knall?

 

Solange die Ressourcen noch vorhanden sind, funktioniert unser System.
Irgendwann werden die Industriegesellschaften aber gezwungen werden, anders
zu agieren. Aber dann ist es zu spät für schmerzfreie Lösungen. Das ist die
wirkliche Katastrophe: Wir haben in den letzten 40 Jahren den Bremsweg
derart verkürzt, dass es nur noch mit einem Knall enden kann.

 

 

 

 

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