Der Tagesspiegel
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Kampfradler-Debatte

Kämpfen, Radler, kämpfen!

19.10.2013 

In der Vorwoche veröffentlichten wir einen Appell an Berlins Autofahrer,
ihre Missetaten nicht immer gegen die der Radler aufzurechnen.[1] Danach
brach sich die Wut über sogenannte „Kampfradler“ erst richtig Bahn. Zeit,
dass sich mal einer zu Wort meldet

von Harald Schumann

Zugegeben, Fahrradfahrer können nerven. Mal fahren sie mitten auf der Spur
und halten den Verkehr hinter sich auf, obwohl es doch nebenan einen
Fahrradweg für sie gibt. Mal drängen sie am Stau vorbei und gefährden
zahllose Außenspiegel. Dann wieder halten sie einfach nicht an den Ampeln.
Schlimmer noch: Nur, weil sie kein Abgas und keinen Lärm verursachen, halten
sie sich für die besseren Menschen. Doch, ich weiß, worüber ich schreibe.
Auch ich fahre gelegentlich mit dem Wagen. Zu West-Berliner Zeiten habe ich
sogar fünf Jahre als Taxifahrer meine Brötchen verdient. Als Autofahrer hat
man schon seine liebe Not mit diesen Gutmenschen auf ihren Drahteseln.

Aber, liebe Blechpiloten, habt ihr je darüber nachgedacht, warum so viele
Mitbürger, die im übrigen Leben brav und gesetzestreu sind, auf dem Rad
bedenkenlos gegen Verkehrsregeln verstoßen und dabei keinerlei
Unrechtsbewusstsein zeigen?

Wer das nicht beantworten kann, dem sei empfohlen, es einfach selbst zu
versuchen. Keine Bange, der Zeitverlust ist minimal. Innerhalb des
S-Bahnrings erreicht der halbwegs geübte Radler die meisten Ziele so schnell
wie jene, die mit dem Anderthalb-Tonnen-Panzer ihre Zeit im Stau
verschwenden. Womit Sie allerdings rechnen müssen, ist eine grundlegende
Erfahrung von Benachteiligung und Unrecht. So wird es Ihnen fast unmöglich
sein, auch nur eine halbe Stunde durch die Innenstadt zu radeln, ohne dass
ein PS-Idiot Ihnen die Vorfahrt nimmt, den Weg abschneidet, direkt vor Ihnen
die Tür öffnet oder so dicht an Ihnen vorbeifährt, dass ein paar Zentimeter
Abweichung reichen würden, Ihnen alle Knochen zu brechen. Mir jedenfalls ist
das in den 35 Jahren als Radfahrer in dieser Stadt gewiss schon mehr als
tausend Mal passiert.

Und wissen Sie was? Noch nie habe ich erlebt, dass ein Polizist einen dieser
Rowdys, die mit meinem Leben spielen, zur Rechenschaft gezogen hat – selbst
wenn eine Streife in der Nähe war. Vom Unrechtsbewusstsein der Täter ganz zu
schweigen. Wer sie, wenn das mal möglich ist, auf ihre Missetaten anspricht,
trifft fast immer auf völlige Ignoranz.

Warum soll ich mich an Regeln halten?

Dazu kommt die Verzweiflung über die Idiotie der Verkehrsplaner. Nicht nur,
dass Ampelschaltungen grundsätzlich den Autoverkehr privilegieren,
regeltreue Radfahrer also an jeder Kreuzung warten müssen. Dazu kommen
gefährliche, uralte und im Winter nicht geräumte Radwege, die noch dazu auf
schmalen Gehwegen laufen, gerne auch direkt durch die Wartezonen von
Bushaltestellen, so, als ob Radfahrer und Fußgänger sich leicht arrangieren
könnten. Tatsächlich aber bewegen sich Erstere in der Regel fünfmal so
schnell, aber nur halb so schnell wie Autos.

Ganz toll sind auch die Baustelleneinrichter. Da enden Fahrradwege dann
einfach im Nichts oder werden direkt in den fließenden Verkehr geleitet. Der
Klassiker ist das Schild mit der Aufschrift, „Fahrradfahrer, bitte
absteigen“, eine Frechheit ohnegleichen. Auf das Schild „Autofahrer, bitte
schieben“, warte ich dagegen bis heute vergeblich.

Der Radler lernt also auf die harte Tour, dass er wenig Schutz genießt, wenn
es die motorisierten Mitmenschen nicht wollen. Das löst bei vielen jedoch
früher oder später die gleiche Reaktion aus. Wenn ich keine Rechte habe,
warum soll ich mich an die Regeln halten? Noch dazu, wenn es die meisten
Ampeln eh nur wegen der Blechkisten gibt. Deren Fahrer sind stark
sichtbehindert und immer übermotorisiert, was sie fortwährend zwischen
Frustration und Aggression oszillieren lässt. Darum müssen sie gezähmt
werden. Aber Radfahrer gefährden zumeist nur sich selbst. Mit vollem
Rundumblick können sie ihre Chancen, bei Rot lebend davonzukommen, gut
einschätzen. Und die größte Gefahr droht ihnen ohnehin bei Grün, weil die
Abbieger sie in ihren Karossen nicht sehen.

Also, liebe autofahrende Zeitgenossen, ich verstehe, dass ihr euch ärgert.
Aber vielleicht bedenkt ihr beim nächsten Mal, dass wir doch gute Gründe
haben, wenn wir nicht nach euren Regeln spielen. Und mal ehrlich: Wenn ihr
manchmal so an euren roten Ampeln vor leeren Kreuzungen steht, fühlt Ihr
euch dann nicht auch wie dressierte Affen? Einfach durchfahren kann so
befreiend sein.

[1] http://www.tagesspiegel.de/8922028.html




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