Tagesspiegel [1] Studie warnt vor Wasserstoff-Lobbyismus
Die Öl- und Gasindustrie hat in der europäischen Energiepolitik großes Gewicht - der Wasserstoff-Rollout ist da keine Ausnahme, zeigt ein neuer Bericht von Corporate Europe Observatory. Das berge das Risiko, dass nicht die Klimapolitik, sondern wirtschaftliche Interessen den Weg weisen von Alicia Prager | veröffentlicht am 07.12.2020 „Warum begeistert Wasserstoff viele Menschen so viel mehr als andere grüne Technologien, die bereits heute in großem Stil einsetzbar sind (etwa erneuerbare Energien)?“, fragte Felix Heilmann vom Thinktank E3G Ende November auf Twitter [2]. Wasserstoff scheine eine Technologiebegeisterung hervorzurufen, wie sie Solarpaneele nicht auslösten, fügte er hinzu. Und das, obwohl der direkte Einsatz erneuerbarer Elektrizität - sofern möglich - stets nachhaltiger sei als der Umweg über Wasserstoff. Einer der Gründe, warum Wasserstoff vielerorts dennoch das Image einer umfassenden Lösung in der Energiewende genieße, sei das erfolgreiche Lobbying der Öl- und Gasindustrie, sagte Gniewomir Flis vom Thinktank Agora Energiewende. „Die Industrie sieht Wasserstoff als Rettungsboot für ihr Businessmodell.“ Zweifellos könne Wasserstoff eine wichtige Rolle bei der Dekarbonisierung spielen, doch viele Wirtschaftsvertreter würden eine bestimmte Vision forcieren, die vor allem ihren eigenen Interessen diene. „Signifikante Teile der Gasinfrastruktur werden mit Blick auf die Klimaziele wertlos. Je mehr Wasserstoff die Gesellschaft verwendet, desto mehr renovierte Gasinfrastruktur braucht es“, lautet die Argumentation von Flis. So sei neben dem „handfesten Potenzial“ ein „gefährlicher Hype“ entstanden, schrieb schon vor über einem Jahr die Boston Consulting Group in einem Bericht [3]. Firmen und Steuerzahler würden derzeit riskieren, Milliarden zu verschwenden, in der Hoffnung, eine Wasserstoff-Wirtschaft aufzubauen, so die Autoren. Gut durchdachte Strategien seien gefragt, um die richtigen Anwendungsgebiete zu identifizieren. 60 Millionen Euro für ein Jahr Lobbyarbeit Eine Antwort, wie der Lobby-Einfluss konkret aussieht, liefert ein neuer Bericht [4] der NGO Corporate Europe Observatory (CEO), der heute Vormittag veröffentlicht wird und der Tagesspiegel Background vorab vorlag. Die Gasindustrie habe es geschafft, massive Unterstützung aus Steuergeldern für Investitionen zu mobilisieren, heißt es darin. So investierte die Wasserstoff-Lobby im vergangenen Jahr fast 60 Millionen Euro in die Beeinflussung der EU-Politik. Zwischen Dezember 2019 und September 2020 gab es im Schnitt pro Monat über 13 Treffen mit Kommissaren und ihren Kabinetten, die zu dem Bereich arbeiten. Wie erfolgreich dieser intensive Austausch gewesen sei, zeige der Vergleich der Wasserstoffpläne der Europäischen Kommission mit den Forderungen des Industrieverbandes Hydrogen Europe: Diese seien nahezu deckungsgleich, schreibt CEO. Der Bericht stützt sich auf die Analyse von über 200 Dokumenten, die CEO mit Anträgen auf Informationszugang gesammelt hat. „Ich war überrascht, wie schnell und zu welchem Ausmaß das Narrativ, das die Öl- und Gasindustrie forciert, von der Politik aufgenommen wurde“, sagte Belén Balanya, Hauptautorin des Berichts, im Gespräch mit Background. Sehe man sich allerdings an, wie die Interessensvertretungen aufgestellt seien, sei der Erfolg der Kampagnen wenig verwunderlich, so Balanya. Zum Beispiel sind Unternehmen wie Shell, Total und Snam prominent in der European Clean Hydrogen Alliance [5] vertreten - einem Zusammenschluss von Industrie, öffentlichen Behörden und Zivilgesellschaft, der unter anderem einen Investitionsplan für Wasserstoffprojekte in Europa erstellt. Dieser soll für den Zeitraum bis 2030 rund 430 Milliarden Euro schwer sein. Dass die Namen großer Mineralölunternehmen auf der langen Mitgliederliste [6] der European Clean Hydrogen Alliance zu finden sind, ist nicht weiter ungewöhnlich. Aufsehenerregender dürfte ein anderer Zusammenhang sein, den der CEO-Bericht hergestellt hat: Zwei der einflussreichsten Wasserstoff-Lobbygruppen, Hydrogen Europe [7] und der Hydrogen Council [8] wurden von FTI Consulting beraten, einem PR-Unternehmen, das wegen seiner Arbeit für die Mineralölindustrie in den USA ins Kreuzfeuer geraten ist. Wie die New York Times berichtete [9], half FTI dabei, Organisationen und Websites einzurichten, die die zivilgesellschaftliche Unterstützung für fossile Initiativen vortäuschten. Eine Imagepolitur für Erdgas, Erdöl und Kohle. Existierende Infrastruktur nutzen Hydrogen Europe - früher unter dem Namen New Energy World Industry Grouping (NEW-IG) als Industrievertreter im gemeinsamen Projekt „Fuel Cells and Hydrogen Joint Undertaking“ (FCH JU) [10] mit EU-Kommission und Wissenschaft tätig - habe sich inzwischen von FTI distanziert, sagte Hydrogen-Europe-Generalsekretär Jorgo Chatzimarkakis. „Das ist eine Geldmaschine, die nicht am eigentlichen Thema interessiert ist“, erklärte er die Entscheidung auf Anfrage. Der Hydrogen Council, der die globale Wasserstoffwirtschaft im Blick hat, arbeitet weiterhin mit FTI zusammen. Auf die Kritik, Wasserstoff würde der fossilen Industrie eine Rettungsleine werfen, antwortete Chatzimarkakis: „Erdgas ist nicht mit den Klimaziele vereinbar, aber das heißt nicht, dass auch die gesamte Infrastruktur schlecht ist. Wir werden den nötigen Umbau nicht schaffen, wenn wir die Pipelines nicht für grüne Gase nutzen“, sagte er. Die direkte Nutzung von Strom sei immer die erste Wahl und auch für die Wasserstoffindustrie allein deshalb schon relevant, weil sich 80 Prozent des Wasserstoffpreises aus dem Preis erneuerbarer Energien ergäbe. Doch dort, wo dies nicht möglich sei, müsse man eine Ersatzstrategie fahren und Erdöl- und Erdgas schnellstmöglich durch Wasserstoff ersetzen, ist Chatzimarkakis überzeugt. „Zwölf Prozent unserer Mitglieder haben mit fossilen Energien zu tun, leisten aber 90 Prozent der Investitionen in Elektrolyseure“, sagte er weiter. Um die Hintertür für grauen Wasserstoff zu schließen, müsse schlicht der CO2-Preis gehoben werden, damit sei dieser nicht konkurrenzfähig. Und auch der Einsatz von blauem Wasserstoff müsse mittelfristig unterbunden werden, fordert Hydrogen Europe. Dass grauer Wasserstoff in Europa akzeptiert werden könnte, hält auch Poppy Kalesi vom Environmental Defense Fund, für unwahrscheinlich. Der Druck der Zivilgesellschaft sei zu groß. Gleichzeitig seien aber auch die Erwartungen in die „Rundum-Lösung Wasserstoff“ überzogen. „In einigen Bereichen ist Wasserstoff natürlich hilfreich, etwa in der Schwerindustrie und im Chemiesektor. Vorschläge zur Beimengung von Wasserstoff zu existierenden Pipelines sehe ich aber skeptisch“, sagte Kalesi. [1] https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/studie-warnt-vor-wasserstoff-lobbyismus [2] https://twitter.com/HeilmannFelix/status/1330869741108518920 [3] https://image-src.bcg.com/Images/BCG-The-Real-Promise-of-Hydrogen-July-2019_tcm79-225426.pdf [4] https://corporateeurope.org/en/hydrogen-hype [5] https://ec.europa.eu/growth/industry/policy/european-clean-hydrogen-alliance_en [6] https://ec.europa.eu/docsroom/documents/43973 [7] https://hydrogeneurope.eu/ [8] https://hydrogencouncil.com/en/ [9] https://www.nytimes.com/2020/11/11/climate/fti-consulting.html [10] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1464285915303886 _______________________________________________ Pressemeldungen mailing list Pressemeldungen@lists.wikimedia.org https://lists.wikimedia.org/mailman/listinfo/pressemeldungen