TELEPOLIS
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"Alle Zentralbanken sind dabei, sich in Bad Banks zu verwandeln"

Reinhard Jellen 01.08.2012

Interview mit Ernst Lohoff und Norbert Trenkle über die Wirtschafts- und
Finanzkrise - Teil 1

Schwarze Wolken am Horizont: Während in Europa die Ökonomien wie
Domino-Steinchen umzufallen drohen und das Ende des Euro in Sicht ist,
scheinen die politischen Maßnahmen [1] trotz ihrer absurden Dimensionen
(Deutschland hat sich zum Beispiel momentan zu einer Gesamthaftung [2] von
644 Milliarden Euro verpflichtet) dagegen von immer kürzerer Wirksamkeit zu
sein.

Jede Lösung des Problems scheint sich unter der Hand in ein noch größeres
Problem zu verwandeln und die Wirtschafts-, Schulden- und Finanzkrise weiter
zu verschärfen und zu vertiefen. Diese Krise [3], mit der Aussicht auf das
Platzen der letzten verbliebenen Finanzblase, nämlich die der Staatskredite
mitsamt der drohenden Inflation, könnte möglicherweise die Zeit nach dem
Schwarzen Freitag im Jahr 1929 wie einen gemütlichen Spaziergang am einem
sonnigen Ostersonntag aussehen lassen. Ein Gespräch mit Ernst Lohoff und
Norbert Trenkle [4], die mit ihrem Buch 'Die große Entwertung' [5] in
unserer Zeit die historische Schranke der bürgerlichen Ökonomie verorten.

Telepolis: Was begreift man mit Marx an der gegenwärtigen Krise [6] besser
als mit anderen Theoretikern?

Ernst Lohoff: Dazu muss man sich zunächst einmal die gegenwärtige
Krisendebatte vor Augen führen, die sich durch eine merkwürdige Diskrepanz
auszeichnet. Einerseits wird konstatiert, es handle sich um eine Krise von
"historischer Dimension" und alle paar Wochen findet ein neues Gipfeltreffen
statt, an dessen Ende die wichtigsten Regierungschefs verkünden, sie hätten
die Weltökonomie gerade vor dem Untergang gerettet. Andererseits jedoch sind
die Erklärungen, die für diese dramatische Entwicklung angeboten werden
äußerst dürftig. Die offizielle Krisendebatte bewegt sich auf dem Niveau des
Hobbyklempners, der hier und dort ein paar Rohre flickt, während gerade der
Keller voll Wasser läuft. Es werden allerlei finanztechnologische Maßnahmen
diskutiert, aber eigentlich weiß niemand so recht, was dabei herauskommt,
weil theoretisch fundierte Analysen des laufenden Krisenprozesses fehlen.

Die reflektierten Vertreter der Volkswirtschaftslehre räumen den Bankrott
ihrer Disziplin inzwischen offen ein. Beispielsweise meinte der
Harvard-Professor und ehemalige Chefvolkswirt des IWF, Kenneth Rogoff,
gegenüber dem Handelsblatt [7] kürzlich, die sehr eleganten ökonomischen
Modelle, die die akademische Welt seit Jahrzehnten dominierten, seien in der
Praxis "sehr, sehr erfolglos gewesen. Als der große Schock kam, erwiesen sie
sich als wertlos."

Telepolis: Worauf ist dieses Totalversagen zurückzuführen?

Ernst Lohoff: Wir denken, dass es schon an der erkenntnisleitenden
Fragestellung liegt. Die Grundfrage unserer Krisenepoche liegt eigentlich
auf der Hand. Warum muss eine Gesellschaft, deren stoffliche Produktivität
geradezu explodiert, die also Güterreichtum ohne Ende herstellen kann,
feststellen, dass sie angeblich "über ihre Verhältnisse gelebt hat"? Die
Antwort auf diese Frage finden wir bei Marx - vorausgesetzt wir lesen ihn
kritisch und gegen die Interpretationsraster des traditionellen Marxismus
und der sogenannten "Marx-Renaissance", der wir gerade beiwohnen.

STOFFLICHER REICHTUM VERSUS ABSTRAKTEM REICHTUM

Das Marxsche "Kapital" beginnt nicht mit dem Gegensatz von Kapital und
Arbeit, sondern mit der "Elementarform" der kapitalistischen Gesellschaft:
der Ware. Marx zeigt, dass in der Ware bereits der Grundwiderspruch angelegt
ist, aus dem sich die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus im Allgemeinen und
die aktuelle Krisenentwicklung im Besonderen erklären lässt. Es ist der
Widerspruch zwischen zwei unterschiedlichen Reichtumsformen: dem stofflichen
Reichtum, wie er sich in der Güterproduktion ausdrückt, und dem abstrakten
Reichtum, wie er sich in der Kategorie des Werts darstellt und im Geld
handhabbar wird.

Unter den Bedingungen der modernen Warenproduktion, also in der
kapitalistischen Gesellschaft, wird stofflicher Reichtum immer nur
produziert, soweit sich dieser auch als Wert darstellen lässt, soweit er
also zur Kapitalverwertung beiträgt. Die Güterproduktion ist hier also immer
nur Mittel zu einem ihr äußerlichen Zweck, dem Selbstzweck, aus Geld mehr
Geld zu machen. Wo dieser Zweck nicht erfüllt werden kann, weil die
Kapitalverwertung ins Stocken gerät, stockt auch die Produktion stofflichen
Reichtums; es werden sogar Güter vernichtet, weil sie nicht verkäuflich
sind, obwohl massenhaft Bedürfnisse unbefriedigt bleiben. Zum Beispiel
müssen dann Menschen in Zelten wohnen, während ihre Häuser leer stehen, bloß
weil sie ihre Kredite nicht mehr abbezahlen können.

Telepolis: Was kennzeichnet die Wirtschaftskrisen in der bürgerlichen
Gesellschaft im Vergleich zu anderen Epochen?

Norbert Trenkle: Prinzipiell lässt sich sagen, dass Krisen im Kapitalismus
nicht aus Mangel, sondern aus Ãœberfluss und inmitten des Ãœberflusses
entstehen. Das ist eine Grundverrücktheit, die die VWL nicht erklären kann,
weil sie die abstrakte Reichtumsproduktion naturalisiert. Die
Warenproduktion erscheint ihr als quasi-natürliche Form des menschlichen
Wirtschaftens. Daher hat sie kein Auge für den inneren Widerspruch zwischen
stofflicher und abstrakter Reichtumsproduktion und ist blind für die
tieferen Ursachen [8] des laufenden Krisenprozesses.

"STRUKTURELLE KRISE DER REALEN WERTPRODUKTION"

Telepolis: Um welche Art Wirtschaftskrise handelt es sich bei der
gegenwärtigen eigentlich?

Ernst Lohoff: Marx unterscheidet zwischen allgemeinen und besonderen Krisen
und konstatiert: "Alle Widersprüche der bürgerlichen Produktion kommen in
den allgemeinen Weltmarktkrisen kollektiv zum Eklat, in den besonderen
Krisen nur zerstreut, isoliert einseitig." Keine Krise in der Geschichte des
Kapitalismus hat sich den Begriff der allgemeinen Krise dermaßen redlich
verdient, wie die gegenwärtige, die seit dem Herbst 2008 manifest geworden
ist. Es handelt sich dabei um ganzes System von Teilkrisen, die sich
gegenseitig bedingen, überlagern und aufeinander aufbauen.

Vor allem zwei Hauptschichten muss man analytisch auseinander halten.
Zunächst einmal gibt es eine strukturelle Krise der realen Wertproduktion.
Die wirkt untergründig schon seit den 1970er Jahren, wurde nie überwunden
und lässt sich auch gar nicht überwinden, denn sie resultiert daraus, dass
die Produktivität mittlerweile zu hoch ist, um den Prozess der
Kapitalverwertung in Gang zu halten. Kapital muss sich vermehren, denn sonst
hört es auf Kapital zu sein, und dazu muss eine beständig wachsende Zahl von
Arbeitskräften in der Produktion von Waren vernutzt werden. Gleichzeitig
wird aber durch die Konkurrenz ein unaufhaltsamer Produktivitätswettlauf
angestachelt, der im Kern darauf hinausläuft, permanent Arbeitskraft durch
Sachkapital zu ersetzen. Das ist der innere Grundwiderspruch der
kapitalistischen Produktionsweise, der sich letztlich gegen diese selbst
richten muss. Wenn nämlich die Produktivität so hoch ist, dass massenhaft
Arbeitskraft überflüssig gemacht wird, werden die Grundlagen der
Kapitalverwertung in Frage gestellt. Genau das macht den Kern der
grundlegenden Strukturkrise aus, in die das kapitalistische Weltsystem seit
dem Ende des Nachkriegsbooms hineingeraten ist.

Telepolis: Und was ist die andere wesentliche Komponente der Krise?

Norbert Trenkle: Diese eben beschriebene Krise ist jahrzehntelang durch die
Aufblähung der Finanzmärkte überspielt worden. Die gesamtgesellschaftliche
Kapitalakkumulation kam nach den Krisen der 1970er Jahre wieder auf Touren
und die Weltwirtschaft fand zurück auf die Wachstumsspur. Dieses Wachstum
wurde aber nicht mehr von tatsächlicher Wertproduktion durch
Arbeitskraftvernutzung getragen, sondern durch die explosionsartige
finanzindustrielle Vermehrung von Kapital. Indem die Finanzindustrie immer
mehr Eigentumstitel (Schulden, Aktien, Derivate) in Umlauf brachte, gelang
ihr das Kunststück zukünftigen Wert, also Wert, der noch gar nicht
produziert ist und vielleicht nie produziert werden wird, in abstrakten
Reichtum zu verwandeln.

Diese Kapitalvermehrung durch Wertantizipation, die längst astronomische
Ausmaße angenommen hat, ist aber selber in die Krise geraten. Die permanente
Vermehrung von Eigentumstiteln, ohne die der Kapitalismus nicht mehr
lebensfähig ist, läuft zwar nach wie vor, ja sogar beschleunigt weiter, aber
nur weil dieses Geschäft jetzt von den Staaten und vor allem den
Zentralbanken betrieben wird. Die Staaten treiben ihre Verschuldung in die
Höhe und die Zentralbanken gewähren den Privatbanken exzessiv Kredit zu
faktischen Nullzinsen, während sie gleichzeitig Staatspapiere aufkaufen, die
sonst keiner mehr kauft. Doch auch hier werden langsam die Grenzen erreicht,
wie etwa die Eurokrise [9] zeigt.

"ZENTRALBANKEN ÃœBERNEHMEN DIE RISIKEN"

Telepolis: Wie hat sich im Zuge der Finanzkrise die Rolle der Zentralbanken
verändert?

Ernst Lohoff: Beim Stichwort "fiktives Kapital" denkt jeder zunächst einmal
vor allem an das in den Händen privatwirtschaftlicher Akteure sich bildende
fiktive Kapital, an die Ansprüche von Geschäftsbanken gegenüber ihren
Kreditnehmern, an Aktien und Staatspapiere, die sich in der Hand von
Versicherungen, Rentenfonds oder Privatanlegern befinden. In dem Maß wie die
Währungen vom Gold entkoppelt wurden, ist aber noch einen weiterer Akteur
für die finanzindustrielle Geldkapitalbildung wichtig geworden nämlich die
Zentralbank. Geldpolitik bedeutet nichts anderes, als dass die Währungshüter
darauf Einfluss nehmen, in welchen Umfang fiktives Geldkapital entsteht. Das
kann indirekt geschehen, etwa durch die Festlegung von Mindestreserven, die
die Geschäftsbanken nicht verleihen dürfen.

Viel wichtiger ist aber etwas anderes: Die Zentralbanken treten selber als
Marktteilnehmer auf den Geld- und Kapitalmärkten auf und häufen fiktives
Kapital an. Die sogenannte "Geldschöpfung" besteht darin, dass die
Zentralbanken den Geschäftsbanken Kredite gewähren, also Zahlungsversprechen
ankaufen. Senken die Notbanken die Zinsen für diese Kredite, dann befeuert
das die Bildung von fiktivem Kapital. Die Erhöhung der Leitzinsen wirkt
dagegen drosselnd. Diese Zinspolitik hat bei der der Ãœberwindung der
bisherigen Kriseneinbrüche in der Ära des fiktiven Kapitals eine zentrale
Rolle gespielt. Auch in der schweren Krise der "New Economy" zu Anfang des
Jahrtausends gelang es, die privatwirtschaftliche Akkumulation von fiktivem
Kapital durch drastische Leitzinssenkungen wieder auf Touren zu bringen.

Gefüttert durch billige Kredite entstand die Immobilienblase, die auch die
schwächelnde Realwirtschaft wieder anfeuerte. In der jetzigen Krise sieht
das jedoch anders aus. Um den Kollaps des Finanzsystems zu verhindern,
müssen die Notenbanken zusätzlich zu einer Nullzinspolitik, die den Rohstoff
für neue Blasen liefern soll, auch sukzessive immer mehr Altlasten
übernehmen und im großen Stil Kredite gewähren, wo sonst niemand mehr
Kredite gewährt. Beim akuten Krisenschub im Herbst 2008 beschränkte sich das
noch darauf, den zusammengebrochenen Interbankenmarkt zu ersetzen.
Normalerweise leihen sich die internationalen Banken gegenseitig ganz
kurzfristig Geld, für das sie gerade aktuell selber keine Verwendung haben.
Nach der Pleite von Lehmann Brothers aber war das gegenseitige Misstrauen
dermaßen groß, dass diese Form des Geldflusses versiegte und die
Privatbanken nur noch bei den Zentralbanken Kredit bekamen.

Gravierender noch als diese kurzfristige Rettungsaktion ist, dass die
Zentralbanken mittlerweile im großen Stil Staatsanleihen aufkaufen müssen,
um zu verhindern, dass der Markt für diese Papiere zusammenbricht und die
Staaten reihenweise bankrottieren. Aber auch die Bankenkrise schwelt weiter.
Auch hier übernehmen die Zentralbanken die Risiken, indem sie die
notleidenden Geschäftsbanken mit langfristigen Krediten versorgen, die im
Falle einer Pleite selbstverständlich abgeschrieben werden müssen.

Ob die US-amerikanische Fed oder die EZB, alle Zentralbanken sind dabei sich
in Bad Banks zu verwandeln. Sie pumpen wie wild Geldkapital ins
Bankensystem, während sich gleichzeitig die Qualität ihrer Währungsreserven
rapide verschlechtert, denn diese bestehen zu einem immer größeren Teil aus
unverkäuflichen Schrott-Papieren. Zwar haben diese Notaufkäufe von
Zahlungsversprechen in den letzten vier Jahren den Kollaps des Finanzsystems
verhindert, doch ist damit der Entwertungsbedarf nur in die Zukunft
verschoben und dabei zugleich vergesellschaftet worden.

"DIE FRAGE IST NICHT, OB ES ZU INFLATIONÄREN PROZESSEN KOMMT, SONDERN WANN"

Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit einer Inflation ein?

Norbert Trenkle: Die Geldwertstabilität wird von zwei Seiten gefährdet: Auf
der einen Seite speisen die Zentralbanken immer mehr Geldkapital in das
Bankensystem ein. Solange dieses Geldkapital bei den Banken und deren Kunden
wieder als Kapital Verwendung findet, also dem Ankauf von Eigentumstiteln
dient oder produktiv investiert wird, bleibt das ohne große Folgen für die
Geldwertstabilität. Das ändert sich indes, wenn es in die Gütermärkte fließt
und dort als bloßes zusätzliches Geld den gehandelten Waren gegenübersteht.
Sobald das in größeren Umfang geschieht, weil profitable Kapitalanlagen
fehlen, muss sich die Aufblähung des Finanzüberbaus in eine Entwertung des
Geldmediums, also in Inflation, übersetzen. Gleichzeitig wird es, wie schon
angedeutet, früher oder später zu einer offenen Entwertung der
Währungsreserven kommen. Einer aufgeblähten Geldmenge stehen dann
abgeschriebene Forderungen gegenüber.

Die Frage ist vor diesen Hintergrund also nicht, ob es zu inflationären
Prozessen kommt, sondern wann diese einsetzen und wie die genaue
Verlaufsform aussieht. Bis dato beschränkt sich die Teuerung, zumindest
hierzulande, auf Edelmetalle und Immobilien, die als Ausweich-Geldanlage in
der Welt der Sachgüter dienen. Im alltäglichen Verkehr macht sich das jetzt
schon in Gestalt steigender Mieten bemerkbar. Dabei wird es aber kaum
bleiben.

In gewisser Weise bedeutet das übrigens eine Rückkehr zu dem Zustand, in dem
sich die Weltwirtschaft vor dem großen Take-off des fiktiven Kapitals
befand. Die 1970er Jahre waren in den kapitalistischen Kernländern von einem
Phänomen gekennzeichnet, das die Ökonomen Stagflation tauften. Schwachen
Wachstumsziffern standen jährliche Inflationsraten von um die 10 Prozent
gegenüber. Allerdings haben sich gegenüber den damaligen Verhältnissen die
Dimensionen gehörig verschoben. Aus der Wachstumsschwäche dürfte eine
manifeste Depression und aus der Inflation eine Hyperinflation werden. Die
Krisenverschiebung hat ihren Preis.

In Teil 2 des Gesprächs äußern sich Ernst Lohoff und Norbert Trenkle zum
"fiktiven Kapital" und zu den Folgen der "Sparpolitik".

Links

[1] http://tinyurl.com/cp8bckp
[2] http://de.statista.com/statistik/daten/studie/232839/umfrage/
[3] http://www.heise.de/tp/artikel/36/36123/1.html
[4] http://www.krisis.org/
[5] http://www.unrast-verlag.de/unrast,2,307,13.html
[6] http://www.heise.de/tp/artikel/37/37150/1.html
[7] http://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/6097068.html
[8] http://www.linksnet.de/de/artikel/27645
[9] http://www.krisis.org/2012/in-der-eurofalle

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TELEPOLIS
http://www.heise.de/tp/artikel/37/37366/1.html

Die Wirtschaftskrise und das "fiktive Kapital"

Reinhard Jellen 02.08.2012

Interview mit Ernst Lohoff und Norbert Trenkle über die Wirtschafts- und
Finanzkrise - Teil 2

Während Theoretiker sowohl des Neo-Liberalismus als auch Keynesianismus die
Krise vorrangig als Verwertungsproblem der Angebots- beziehungsweise der
Nachfrageseite deuten, hat nach den Ausführungen von Ernst Lohoff und
Norbert Trenkle die bürgerliche Ökonomie mit dem Eintritt in das
IT-Zeitalter, in dem durch die steigende Ersetzung menschlicher Arbeitskraft
durch Technologie exponentiell mehr Menschen aus der Lohnarbeit
herausgedrängt als eingesaugt werden, bei Beibehaltung der Arbeit als
grundlegende Quelle des Profits, einen Herzinfarkt erlitten und kann nur
noch durch die Zufuhr von spekulativ angelegten Kapital, dem sogenannten
"fiktiven Kapital" kompensiert werden. Die Anzahl der auf den Finanzmärkten
gehandelten Eigentumstiteln wie Derivaten, Futures, Options etcetera, deren
Wert sich erst noch in der Zukunft realisieren muss, die aber vorab schon
als Kapital gehandelt werden, hat in den letzten Jahren drastisch zugenommen
und übersteigt den realwirtschaftlich produzierten Wert um ein Vielfaches.

Diese Verlagerung der Akkumulation von der Produktion in die Sphäre der
Spekulation beseitigt aber das Verwertungs-Problem nicht, sondern bringt es
nur auf eine tiefgreifendere Ebene - mit umso schwerwiegenderen
Konsequenzen. Bricht der Glaube an die Realisierung der zukünftigen Werte
weg, weil absehbar ist, dass sich die realwirtschaftliche Basis auf die sich
die Eigentumstitel beziehen erodiert, bricht nach Ansicht der Autoren von
'Die große Entwertung' [2] das gesamte kettenbriefartig strukturierte System
zusammen. Teil 2 des Gesprächs mit Ernst Lohoff und Norbert Trenkle über die
Wirtschafts- und Finanzkrise.

Telepolis: Was sind die Ursachen für die gegenwärtige Krise?

Norbert Trenkle: Bei den Ursachen muss man die beiden Hauptschichten der
Krise unterscheiden. Die basale Krise der Wertverwertung ist, wie gesagt,
der beschleunigten Produktivitätsentwicklung geschuldet, die immer mehr
Arbeitskraft überflüssig macht. Dabei spielt die dritte industrielle
Revolution eine entscheidende Rolle. Zwar gab es auch in früheren Phasen der
kapitalistischen Entwicklung gewaltige Rationalisierungsschübe, so etwa als
in den 1920er und 30er Jahren die fordistischen Produktionsmethoden
eingeführt wurden. Aber gleichzeitig wurden damit auch neue Sektoren für die
industrielle Massenproduktion erschlossen, die massenhaft zusätzliche
Arbeitskraft benötigten. Diese Expansion der Warenproduktion auf neue Felder
kompensierte die Rationalisierungseffekte, sodass letztlich sogar mehr
Arbeitskraft vernutzt wurde als zuvor.

Mit der dritten industriellen Revolution funktioniert dieser
Kompensationsmechanismus jedoch nicht mehr. Denn die Umstrukturierung der
Produktionsprozesse auf Grundlage der IuK-Technologien bedeutet eine
Verlagerung der gesellschaftlichen Produktivkraft auf die Ebene des Wissens,
genauer gesagt, hin zur Anwendung des Wissens auf die Produktion. Damit aber
sind die Grundlagen der Kapitalverwertung in Frage gestellt, denn es kommt
zu einer absoluten Verdrängung von Arbeitskraft quer durch alle Sektoren der
Wertproduktion, die nicht mehr durch die Erschließung neuer Branchen
wettgemacht werden kann.

Telepolis: Was ist nun das "fiktive Kapital" und welche Rolle spielt es in
der aktuellen Krise?

Ernst Lohoff: Das "fiktiven Kapital" ist für das Verständnis der zweiten
Schicht der Krise zentral. Marx führte diesen Begriff in Abgrenzung zum
Begriff des "fungierenden Kapitals" ein. Er zeigte, dass das Kapital im
Laufe seiner Entwicklung nicht nur die Produktion von Kartoffeln, Stahl,
Textilien und so weiter in Warenproduktion verwandelt, sondern dass das
Geldkapital selber ebenfalls zur handelbaren Ware wird.

"ANSPRUCH AUF ZUKÃœNFTIGEN WERT"

Dabei geschieht etwas höchst Merkwürdiges. Aufgrund des Verkaufs gewinnt das
Ausgangskapital plötzlich eine doppelte Existenz. Einerseits befindet sich
das Ausgangskapital beim Kreditnehmer beziehungsweise beim Aktien
ausgebenden Unternehmen, gleichzeitig hat aber der Kreditgeber
beziehungsweise der Aktionär ein Spiegelbild des Ausgangskapitals in Händen,
nämlich einen Eigentumstitel (Anleihe, Aktie etcetera), der einen monetären
Anspruch darstellt. Diese Verdoppelung ist keineswegs eine bloße Fiktion,
wie der Begriff des "fiktiven Kapitals" nahe legen könnte. Sie existiert
nicht nur in den Köpfen, sondern gewinnt in Gestalt des Wertpapiers eine
objektive gesellschaftliche Existenz, solange der verbriefte Anspruch als
einlösbar erscheint. Es handelt sich um einen Anspruch auf zukünftigen Wert
und dieser stellt zunächst genauso kapitalistischen Reichtum dar wie der vom
fungierenden Kapital der Arbeitskraft abgepresste Wert.

Zu Marx' Zeiten stellte diese Art der Kapitalvermehrung durch
Vorabkapitalisierung künftigen Werts eine für die längerfristige Entwicklung
der Kapitalakkumulation irrelevante Marginalie dar. Seit dreißig Jahren aber
ist sie zur eigentlichen Quelle kapitalistischen Reichtums geworden. Um die
kapitalistische Produktion am Laufen zu halten, obwohl durch die
Produktivitätsentwicklung immer mehr Arbeitskraft überflüssig gemacht wird,
wurden immer größere Portionen an zukünftigem, fiktivem Wert in die
Gegenwart gepumpt. Damit konnte die strukturelle Krise der Verwertung
zunächst einmal aufgeschoben werden.

Telepolis: Und was ist der Haken bei der Sache?

Ernst Lohoff: Dummerweise kann ein auf Vorwegnahme künftiger Wertproduktion
beruhendes System nur als Kettenbriefsystem funktionieren. Und als solches
kommt es von zwei Seiten in die Klemme: auf der einen Seite wachsen die
Altlasten schon verbrauchter kapitalistischer Zukunft umso schneller in den
Himmel, je länger diese verrückteste Form des Kapitalismus schon vor sich
hinprozessiert. Die Schulden der Vergangenheit können nicht folgenlos
verschwinden. Sie müssen entweder refinanziert werden oder es wird
gesellschaftliches Kapital durch die Annullierung des fiktiven Kapitals
vernichtet.

"SCHULDEN DER VERGANGENHEIT KÖNNEN NICHT FOLGENLOS VERSCHWINDEN"

Zum anderen kann die wachsende Flut immer neuer Eigentumstitel nur dann
Absatz finden, wenn es irgendwie plausibel erscheint, dass sich die
Zahlungsversprechen und Gewinnaussichten der Kreditnehmer und sonstiger
Eigentumstitelverkäufer auch realisieren lassen. Ist das nicht mehr
gewährleistet, platzt die Blase und es erscheint dann so, als handele es
sich um eine "Finanzkrise". In Wahrheit aber versagt nur der Mechanismus,
der es jahrzehnzelang erlaubt hat, die Strukturkrise der Verwertung
aufzuschieben. Wenn man das versteht, weiß man, dass die aktuelle Krise
weitaus dramatischer ist, als sie wahrgenommen wird. Es handelt sich um eine
Systemkrise im strengen Sinne des Wortes, um eine Krise, die das System der
kapitalistischen Reichtumsproduktion ernsthaft in Frage stellt.

Telepolis: Welche Folgen wird die Sparpolitik zeitigen, die gegenwärtig als
Lösung der Krise von der wirtschaftlichen und politischen Klasse betrieben
wird?

Norbert Trenkle: Was die Sparpolitik angeht, muss man zwei Dinge auseinander
halten. Sparpolitik in dem Sinne der offiziellen Zwecksetzung, nämlich als
Weg hin zur Haushaltskonsolidierung, ist eine Fata Morgana. Die
Neuverschuldung wird schon allein deshalb weitergehen müssen, weil den
Staaten gar keine andere Wahl bleibt, als immer wieder zig Milliarden in das
Banken- und Finanzsystem zu pumpen, um dessen Zusammenbruch so lange wie
irgend möglich aufzuschieben, weil sonst katastrophale Folgen drohen. Diese
Milliarden können jedoch unmöglich aus der realen Wertschöpfung stammen,
sondern lassen sich nur durch den erneuten Vorgriff auf zukünftigen Wert
aufbringen.

"FOLGEN FÜR DIE MEHRHEIT DER BEVÖLKERUNG SIND VERHEEREND"

Also müssen die Staaten alles daran setzen, ihre Kreditwürdigkeit zu wahren
und so zu tun, als wären sie zu einer längerfristigen
Haushaltskonsolidierung in der Lage. Und genau das demonstrieren sie durch
eine knallharte Sparpolitik gegenüber all jenen gesellschaftlichen
Bereichen, die vom Standpunkt des fiktiven Kapitals als reiner Ballast
gelten: die Sozialsysteme, die öffentlichen Dienste, der Bildungssektor
etcetera. Die offizielle Sprachregelung ist in dieser Hinsicht eigentlich
sehr offenherzig, wenn sie zwischen "systemrelevanten" und
"nicht-systemrelevanten" Sektoren unterscheidet. Dass die Folgen für die
Mehrheit der Bevölkerung und die stoffliche Reichtumsproduktion verheerend
sind, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Es genügt ein Blick nach
Griechenland und Spanien, wo gerade vorexekutiert wird, was früher oder
später auch in den Ländern droht, die bisher noch nicht ganz so stark von
den Krisenfolgen betroffen sind.

Telepolis: Wozu diese Verelendungspolitik?

Norbert Trenkle: Diese wird nicht etwa deswegen betrieben, um die
Gesellschaft "nachhaltig" zu gestalten und "unseren Kindern" keine
übermäßigen Schulden zu hinterlassen, wie es im moralinsauren,
pathetisch-verlogenen Politikerjargon heißt, sondern nur um die Akkumulation
des fiktiven Kapitals noch eine Zeitlang fortzusetzen. Der Preis dafür wird
allerdings immer höher. Denn jetzt geht es nicht mehr nur darum, die
Maschine der abstrakten Reichtumsproduktion, die aufgrund der hohen
Produktivität ins Stocken geraten ist, durch das Ansaugen von zukünftigem
Wert in Schwung zu halten. Vielmehr muss in erster Linie verhindert werden,
dass das aufgetürmte Gebirge uneinlösbarer Zahlungsversprechen
zusammenbricht. Deshalb fließt der Großteil des neu geschöpften fiktiven
Kapitals wieder direkt in den Finanzsektor zurück und immer weniger davon
kommt im realwirtschaftlichen Kreislauf an.

"AUFGETÜRMTE GEBIRGE UNEINLÖSBARER ZAHLUNGSVERSPRECHEN"

Damit gelangt die demonstrative Sparpolitik allerdings an einen Punkt, wo
sie kontraproduktiv selbst noch für den bornierten Zweck der Akkumulation
von fiktivem Kapital wird. Wo sie nämlich ins Extrem getrieben wird, wie
derzeit in Griechenland und Spanien, führt das direkt in die wirtschaftliche
Depression - und davon ist dann auch das Banken- und Finanzsystem betroffen.
Langsam dämmert das auch den Hardlinern unter den deutschen und europäischen
Sparkommissaren. Deshalb und natürlich auch wegen der massiven Proteste
werden jetzt neue Wachstums- und Konjunkturprogramme diskutiert. Ob diese
jedoch noch rechtzeitig umgesetzt werden, bevor die Lawine abgeht, ist
unklar. Zu hoffen ist es, denn immerhin könnte damit der Verarmungsschub
erst einmal abgebremst werden.

Freilich wäre damit bestenfalls ein gewisser zeitlicher Aufschub erreicht.
Denn solche Programme hängen ja genauso am Tropf des fiktiven Kapitals und
deshalb ist es auch konsequent, dass ihre Fürsprecher, wie der neue
französische Präsident Hollande, keinesfalls die Sparpolitik als solche in
Frage stellen, sondern sie nur etwas anders gestalten wollen. Auch sie
rennen der Illusion eines ausgeglichenen Haushalts hinterher und sind
letztlich bereit, der Bevölkerung für diese Fiktion alle möglichen Opfer
abzuverlangen. Von einer möglichen rot-grünen Bundesregierung im kommenden
Jahr sind in dieser Hinsicht jedenfalls jede Menge Grausamkeiten zu
erwarten.

Telepolis: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass "früher oder später ein Punkt
erreicht sein muss, an dem das erreichte Niveau der Produktivkräfte mit der
kapitalistischen Reichtumsform unvereinbar wird." - Gibt es aber nicht in
jeder Krise beziehungsweise danach Tendenzen, die der Krise entgegenwirken?

Ernst Lohoff: Die Marxsche Krisentheorie verbindet zwei Elemente
miteinander. Zum einen vertritt Marx die These, das Kapital steuere aufgrund
der Produktivkraftentwicklung auf eine unüberwindbare historische Schranke
zu. Auf der anderen Seite hat er auch den Verlauf der periodischen Krisen
untersucht, die immer wieder den Fortgang der Kapitalakkumulation
unterbrechen. Diese beiden Elemente sind in seiner Krisentheorie insofern
miteinander verklammert, als in den periodischen Krisen das Grundproblem des
Kapitalismus, die Unterordnung der stofflichen Reichtumsproduktion unter den
armseligen Zweck der Wertverwertung, immer schon aufscheint.

"BUDDHISTISCHES KRISENVERSTÄNDNIS"

Gerade in der linken Diskussion herrscht noch viel mehr als in anderen
Segmenten der Gesellschaft eine ausgeprägte Tendenz, die gegenwärtige Krise
klein zu reden. Dementsprechend wird das Problem der periodischen Krisen
isoliert betrachtet und die Möglichkeit einer historischen Schranke einfach
durchgestrichen. Das Ergebnis ist eine Art buddhistisches Krisenverständnis,
demzufolge Krisen nichts weiter sind als reine "Selbstreinigungskrisen". Sie
kommen und gehen ewig und stärken letztlich das Kapital nur. Bei Marx selbst
klingt das auch, wo er nur von den periodischen Krisen spricht, völlig
anders: "Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen, der
vorhandenen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte
Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen." Das Übergreifende ist
für ihn die beständige Verschärfung und Akkumulation neuer Widersprüche.

Unsere Argumentation im Buch knüpft unmittelbar an der Marxschen Vorstellung
einer historischen Schranke an und verortet diese in der dritten
industriellen Revolution. Dass die Kapitalvernichtung in der Krise die
Profitabilität des überlebenden Kapitals wiederherstellen und damit zum
Ausgangspunkt eines neuerlichen Akkumulationsschubs werden kann, bezieht
sich nicht auf das Problem der historischen Schranke, sondern ausschließlich
auf die periodischen Krisen. Vorausgesetzt ist dabei, dass nach der
Bereinigung von Überkapazitäten eine neuer Schub selbsttragender
Kapitalverwertung einsetzen kann. Aber genau das ist unter den Bedingungen
der dritten industriellen Revolution grundsätzlich ausgeschlossen.

In Teil 3 des Interviews werden von Ernst Lohoff und Norbert Trenkle unter
anderem die Rollen des Keynesianismus und Neoliberalismus bei der
gegenwärtigen Wirtschaftskrise erörtert.




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