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* 10.02.2012

Aufräumarbeiten in Japan

Der gute Mann von Fukushima

Kurze Zeit waren die Atomsamariter von Fukushima in aller Munde. Heute
herrscht Schweigen rund um die Reaktorruine. Ausgerechnet ein Arbeiter der
Mafia spricht jetzt.

von Georg Blume

FUKUSHIMA taz | Es ist spät geworden, abends in einer Karaoke-Bar in
Fukushima. Ihsaka schläft. Er hat viel getrunken, erst Bier, dann Sake.
Jetzt liegt er zusammengerollt auf einem blauen Plüschsofa. Die langen
grauen Haare bedecken das hagere Gesicht. Er trägt einen Hanten, eine
altmodische japanische Winterjacke, und Zori, die traditionellen
Holzsandalen. Vor ihm stehen Gläser, eine Flasche für den Sake und eine kaum
berührte Schale mit Pommes frites. Tonlos läuft der Fernsehapparat.

Wenn man jetzt neue Codes für weitere Lieder eingäbe, würden wieder die
alten Lieder aus den 50er und 60er Jahren erklingen, die Ihsaka so liebt. Er
kennt sie auswendig. Sie handeln von Bruderliebe und Gerechtigkeit, von den
populären Träumereien der japanischen Mafia. Ihsaka hat den ganzen Abend
gesungen, dann haben ihn Müdigkeit und Alkohol überwältigt.

"Ich bin ein Yakuza", hat Ihsaka im Laufe des Abends gesagt. Yakuza - das
sind Mafiosi, Leute aus dem zum Teil kriminellen, zum Teil sozial
integrierten japanischen Gangstermilieu. Normalerweise verschweigen die
Yakuza ihre Herkunft, aber Ihsaka verschweigt nur seinen Vornamen.

Er ist ein Sonderfall, denn er befindet sich auf einer Mission. "Was ich
tue, ist ein winziger Beitrag", sagt er nach vielen Gläsern Sake. "Aber wenn
meine Arbeit nicht getan wird, werden nie wieder Kinder in Fukushima spielen
können." Im Gegensatz zu anderen ist er freiwillig nach Fukushima gekommen.
Ihsaka ist eine Art Atomsamariter.

Treffpunkt J-Village

Seit dem vergangenen Sommer arbeitet er an vier Tagen pro Woche auf dem
verseuchten AKW-Gelände von Fukushima. Er wohnt in einer Touristenherberge
eine Fahrtstunde südlich davon. Eigentlich ein Luxusquartier, aber er teilt
das Zimmer mit drei Kollegen. Ihsaka misshagt diese Enge. Deshalb ist er
froh, wenn er einen Abend in der Karaoke-Bar verbringen kann.

In dem Ferienort Yuzawa-onsen in der Präfektur Fukushima haben die
AKW-Arbeiter als Gäste die Touristen ersetzt, die nicht mehr kommen. An
Arbeitstagen steht Ihsaka morgens um fünf Uhr auf. Dann bringt ein Kleinbus
der Yakuza ihn und seine Kollegen bis zum J-Village. Das J-Village war das
Trainingsgelände der japanischen Frauen-Fußballnationalmannschaft, die die
Weltmeisterschaft in Deutschland gewann. Heute ist es die Kommandozentrale
für die Rettungs- und Reparaturarbeiten an den zerstörten Reaktoren. 5.000
Leute arbeiten im J-Village und auf dem 20 Kilometer weiter entfernten
Reaktorgelände.

Ihsakas Kleinbus hält auf einem riesigen Parkplatz neben Hunderten von
anderen Bussen, hinter deren Windschutzscheiben Schilder der großen Firmen
stecken: Mitsubishi, Toshiba, Hitachi. Die ganze Japan AG räumt jetzt mit
auf, und die Busse bringen die Firmenmitarbeiter vor Ort. Doch zur Japan AG
gehört auch die Yakuza. Keines der über 50 Atomkraftwerke im Land wurde ohne
sie gebaut. Denn die Mafiabanden monopolisieren seit Jahrzehnten das
Vermittlungsgeschäft für Tagelöhner auf Großbaustellen.

Dabei müssen die von der Mafia gestellten Arbeiter die niedrigsten und meist
auch gefährlichsten Arbeiten verrichten. Passiert dann ein Unfall, kaschiert
dann das Gangsternetzwerk die Folgen. Umso mehr wird die Yakuza jetzt in
Fukushima gebraucht. Erkrankt einer ihrer Arbeiter später an Krebs, der von
radioaktiver Strahlung ausgelöst wurde, werden Nachforschungen erfolglos
sein. Dennoch gibt es Arbeitsverträge. Im Prinzip also ein legales Geschäft.

Ihsaka zählt zu einer Arbeitsgruppe von acht Männern. Ihr Tageslohn liegt
mit umgerechnet 150 Euro etwas höher als auf normalen Baustellen. Sie
sammeln sich auf dem Parkplatz, betreten die Sperrzone jenseits des
J-Village und werden von dort zum Reaktorgelände gefahren. Ihre Aufgabe
besteht darin, Gebäude, Rohre und Ruinen zu reinigen - alles, was von den
kaputten Reaktoren noch stehen geblieben ist. Ihsakas Kollegen sind weniger
freiwillig dabei: Die meisten von ihnen haben Schulden bei den Kredithaien
der Mafia und müssen deshalb jede Arbeit annehmen, die ihnen die Gangster
vermitteln.

Arbeiten ohne Schutzanzug

Kein Außenstehender darf die Arbeiter auf dem Reaktorgelände begleiten.
Journalisten konnten bisher nur in Gruppen unter genauer Anweisung des
AKW-Betreibers Tepco den Katastrophenort besichtigen. Ihsaka aber ist
viermal die Woche vor Ort und kann davon erzählen.

Normalerweise tragen er und seine Kollegen schwere Schutzkleidung und einen
Dosimeter bei der Arbeit. "Wir sollen Anzüge und Masken tragen, aber das tun
wir nicht immer", sagt Ihsaka. Jetzt im Winter stört die Kleidung nicht mehr
so. Aber noch vor ein paar Monaten, im Spätsommer, als Ihsakas Gruppe Schutt
und Geröll von den Reaktorruinen abtrug, behinderte sie die Arbeiter beim
Heben schwerer Gegenstände. Zudem schwitzten die Arbeiter. "Damals sah ich
oft die Tattoos meiner Kollegen", sagt Ihsaka. Sie arbeiteten dann ohne
Oberbekleidung neben den strahlenden Reaktoren. Ihsaka erinnert sich, dass
niemand ihn anlernte, wie man sich am besten im Schutzanzug bewegt.

Bis heute passen die acht Männer von Ihsakas Team auf, dass jeder von ihnen
am Ende eines Arbeitstages die gleiche Strahlenanzeige auf dem Dosimeter
hat. "Wenn ich 1,1 Millisievert abbekomme und der Kollege nur 0,9
Millisievert, tauschen wir nach einer Weile die Arbeitspositionen", sagt
Ihsaka. Dabei leitet die Männer nicht so sehr die Furcht vor einer höheren
Strahlendosis als die Sorge um die Arbeit am nächsten Tag. Denn wer zu viel
Strahlen abbekommt, wird für die Arbeit am nächsten Tag aussortiert - und
erhält keinen Lohn.

Bei 100 Millisievert liegt die Obergrenze für die Strahlendosis, der ein
AKW-Arbeiter in Japan pro Jahr ausgesetzt werden darf. Ihsaka hat bisher
seit Juli laut seinen Arbeitsdokumenten 70 Millisievert akkumuliert. Noch
kann er weiterarbeiten. Wie groß die Gefahr für ihn wirklich ist, will er
nicht wissen. "Natürlich bin ich deren Versuchskaninchen", sagt er. Aber das
scheint ihn nicht zu stören.

Ihsaka hat seine eigenen Gründe, das Strahlenrisiko auf sich zu nehmen. Bis
zum letzten Sommer arbeitete er 29 Jahre lang als Koch in Tokio. Er war kein
aktiver Yakuza, gehörte zum Milieu. Deshalb aber verließ ihn seine Frau. Bei
ihm blieb nur seine erwachsene Tochter, die sich um ihn kümmerte, als er vor
einem Jahr an einer schweren Lungenentzündung erkrankte.

Er war tagelang bewusstlos, doch die Tochter blieb an seinem Bett. "Ich
wurde gerettet, nun bin ich hier, um das Leben der Kinder von Fukushima zu
retten. Dafür will ich meiner Tochter in Erinnerung bleiben", sagt Ihsaka.
Eigentlich wollte er in Fukushima als Koch für die Evakuierten arbeiten.
Aber dann fand er über seine Kontakte zur Mafia den Job auf dem
Reaktorgelände.

Diese Geheimnistuerei

Ihsaka hat weder studiert noch je eine Ausbildung erhalten. Auch das Kochen
brachte er sich selbst bei. Aber er ist ein nachdenklicher Mensch. Von sich
aus spricht er an dem Abend in der Karaoke-Bar über Hiroshima und Nagasaki.
Das tun ganz wenige Japaner im Zusammenhang mit Fukushima. Ihsaka besinnt
sich, dass die Amerikaner nach den Atombombenabwürfen alles unternahmen, um
die Folgen der radioaktiven Strahlung geheim zu halten.

Tatsächlich wurden sämtliche Untersuchungen des berühmten amerikanischen
Strahlenkrankenhauses in Hiroshima über Jahrzehnte unter Verschluss
gehalten. "Die gleiche Geheimnistuerei betreiben wir Japaner heute nach
Fukushima", sagt er.

Auch deshalb spricht er an diesem Abend so viel. Er will keine Geheimnisse
mehr. Zwar musste er vor Antritt seiner Arbeit eine Erklärung
unterschreiben, dass er den Medien nichts von seiner Tätigkeit berichtet.
Doch nun bricht er bewusst die Regel. "Ich würde der Welt gern alles
erzählen", sagt er.

Nach Eintreten der Reaktorkatastrophe galten AKW-Arbeiter wie er für einen
Moment in der Öffentlichkeit als Helden. Doch sie erlangten nicht annähernd
den Ruhm wie etwa die New Yorker Feuerwehrmänner nach den Attentaten auf die
Twin Towers. Dabei ist Ihsaka ein echter Überzeugungstäter und ein dankbarer
Interviewpartner. Dennoch gibt es bis auf ein paar allgemeine Berichte der
New York Times über die Arbeitsbedingungen der AKW-Arbeiter bisher kaum
Geschichten über die Helden von Fukushima. Sind sie der Erzählung nicht
wert?

Je länger Ihsaka in der Karaoke-Bar redet, desto mehr begreift er, wie
aufsehenerregend seine Geschichte ist. Die Fragen des Reporters machen ihn
stutzig. Warum fragt dieser nach den Farben und Motiven von den Tattoos
seiner Kollegen? Ihsaka erreicht immer wieder einen Punkt, an dem er nicht
mehr antwortet.

Er würde gern erzählen, aber er müsse auch an seine Unterschrift für die
Betreiberfirma Tepco denken, rechtfertigt er sich. Vor die Kamera würde er
nie treten. Aber am nächsten Tag verabredet er sich noch einmal in einer
Nudelbar mit dem Reporter. "Ich bin einsam", grüßt er. "Ich vermisse das
Reden."

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Arbeitgeber Mafia

In der Präfektur Fukushima hängen überall Plakate, die vor Geschäften mit
der Yakuza warnen. Die Mafia ist als Arbeitsvermittler stets dabei, wenn in
Japan Großaufträge für die Bauindustrie erteilt werden - wie jetzt beim
Wiederaufbau in der Region. Erst kürzlich beschrieb der Journalist Tomohiko
Suzuki in einem Buch, wie die Yakuza im vergangenen Sommer auch Arbeiter für
die Aufräumarbeiten auf dem zerstörten Reaktorgelände vermittelte. Dabei
streitet Japan auch über die Yakuza - neulich musste ein Fernsehmoderator
seine Show aufgeben, weil er Verbindungen zur Mafia hatte. (gbl)

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