Hallo rohrpostler, Auch im zweiten Jahr der Covid-19-Pandemie finden die Public Talks der Berliner Gazette-Jahreskonferenz online statt. Für die diesjährige Ausgabe mit dem Titel BLACK BOX EAST bieten wir sechs Online-Vorträge in Form von Videos an (siehe unten) sowie eine Online-Versammlung am Samstag, den 25. September um 15:00 Uhr MEZ. Hier werden die Workshop-Gruppen zu Themen wie „New Cold War“ und „Politics of Liberty“ ihre Ergebnisse präsentieren. Dieser Event ist kostenfrei und öffentlich zugänglich, wir freuen uns, wenn Sie am Samstag dabei sind! Wir verwenden für dieses digitale Treffen die Open-Source-Software Big Blue Button (Browserempfehlung: Firefox oder Chrome). Sie finden uns hier: https://bbb.berlinergazette.de/b/mag-6en-jvx-8kt
In den Video-Lectures stellt Ostdeutschland den Ausgangspunkt für eine kritische Untersuchung „postkommunistischer“ Räume dar. Hierbei liegt der Fokus auf intransparent gemachte Prozesse der Privatisierung und Globalisierung. Die Vorträge zeigen gemeinsame Wege des transnationalen Diskurses und Kampfes auf. Dabei stellen sie die BLACK BOX EAST als ein schädliches kapitalistisches System exzessiver ökonomischer und politischer Enteignung in Frage, die nicht länger verschleiert oder ignoriert werden kann. *Das Ellenbogen-Prinzip* Nach dem Fall der Berliner Mauer sollte „der Osten“ schnell zu einem funktionierenden Teil der deutschen Volkswirtschaft werden. Schocktherapien wurden verordnet, darunter die weltweit größte Ad-hoc-Privatisierung von Staatsbetrieben. Gleichzeitig wurden die Enteigneten aufgefordert, von bestimmten Körperteilen, vor allem den Ellenbogen, besonderen Gebrauch zu machen: Diese sollten auffällig ausgefahren werden, als Zeichen einer erfolgreichen Aneignung des Individualismus, auf den die freie Marktwirtschaft schwört. Das so genannte „Ellenbogenprinzip“ sollte überall zum Tragen kommen, sei es in Jobcentern oder in Kellern, die zu Undercover-Läden umfunktioniert worden waren. Diesem Aufruf folgend, hatten einige Erfolg, andere scheiterten. In ihrer BLACK BOX EAST-Video-Lecture lassen die Theatermacherinnen Johanna-Yasirra Kluhs und Tanja Krone diese Menschen zu Wort kommen: Es entsteht eine vielstimmige Erzählung der wirtschaftlichen Realitäten in der Nachwendezeit, die der offiziellen Geschichtsschreibung zuwiderlaufen, die Kapitalist*innen (aus West und Ost) zu einer Erfolgsgeschichte des Liberalismus gemacht haben. Sehen Sie sich die Video-Lecture hier an: https://vimeo.com/604213507 *Kapital und Erinnerung* Historische Bilder von jubelnden Menschen angesichts der „deutschen Einheit“ werden in westlichen Mediendiskursen oftmals den Bildern des Krieges in Jugoslawien während seines Zerfallsprozesses gegenübergestellt. Um zu verdeutlichen, dass Nationalismus für „uns“ die Erfüllung von Sehnsüchten und für „die anderen“ Tod und Verderben bedeutet, wird mit dieser Gegenüberstellung die Vorstellung von „gutem“ und „schlechtem“ Nationalismus genährt, der für „gute“ bzw. „schlechte“ Nationalstaaten reserviert ist. Dabei wird der gemeinsame Nenner dieser bildbasierten Erinnerungen ausgeblendet: Nach der Auflösung des Ostblocks war die Ausbreitung des Neoliberalismus – sei es in Neu-Deutschland oder Ex-Jugoslawien – nur unter dem Deckmantel eines völkischen Narrativs möglich, das das Gedenken vereinnahmt hat. Im Zuge dessen sollten identitäre Geschenke den ökonomischen Raub vergessen machen. In seiner BLACK BOX EAST-Video-Lecture zeigt der politische Theoretiker Gal Kirn, dass „der Feind“ emanzipatorischer Politik keine Grenzen kennt, obwohl er ständig damit beschäftigt ist, (identitäre) Grenzen zu markieren. Sehen Sie sich die Video-Lecture hier an: https://vimeo.com/606483038 *Bürokratisches Bordering* Auf dem Papier gelten Osteuropäer*innen aus Bulgarien, Kroatien, Polen oder Rumänien, als EU-Bürger*innen. In der Realität werden sie systematisch degradiert. In einem perfiden Zusammenspiel von Behörden, Arbeitgeber*innen und Vermittlungsagenturen wird ein bürokratisches Bordering in Szene gesetzt, das ein menschenwürdiges Leben praktisch unmöglich macht – obwohl oder vielleicht gerade weil die degradierten Migrant*innen für den Arbeitsmarkt, insbesondere in Deutschland, unverzichtbar sind. In ihrer BLACK BOX EAST-Video-Lecture berichtet die Sozialtheoretikerin und Aktivistin Polina Manolova aus einer EU, die die Freizügigkeit feiert, in der aber vor allem Prekarisierung und Ungerechtigkeit herrschen. Sie erkundet, wie sich diese toxischen Widersprüche während der Covid-19-Pandemie zugespitzt haben, und fordert uns auf zu verstehen, dass mobile Arbeiter*innen, etwa aus Bulgarien, nicht einfach als Opfer eines ausbeuterischen und entmenschlichenden Regimes dargestellt werden sollten. Vielmehr ist es wichtig zu sehen, wie es ihnen gelingt, sich in losen Netzwerken der Solidarität und Fürsorge zu organisieren, ohne die ein Überleben nicht möglich wäre. Sehen Sie sich die Video-Lecture hier an: https://vimeo.com/591631518 *Ghost Workers* Große und kleine Online-Plattformen sind „systemrelevant“ geworden, vor allem in westlichen Gesellschaften. Diese Plattformen werden – wie große Teile der digitalen, scheinbar vollautomatisierten Welt – von Crowdworker*innen am Laufen gehalten, die systematisch unsichtbar gemacht werden. Um Licht in diese Schattenwelt zu bringen, hat die Forschung „Ghost Worker“ in den Vordergrund gerückt, die in Ländern des globalen Südens, etwa Indien, tätig sind. Weniger Beachtung finden die wachsende Zahl von Crowdworker*innen in Osteuropa sowie das Verhältnis zwischen dem europäischen „Zentrum“ und der „Peripherie“ in der globalen digitalen Wirtschaft. Dies ist umso erstaunlicher, als dass eine Studie der Weltbank aus dem Jahr 2015 Rumänien und Serbien als die weltweit führenden Online-Outsourcing-Länder einstufte, gemessen an dem Anteil der Crowdworker*innen an der Gesamtbevölkerung der Länder. Die Sozialwissenschaftlerin und Ethnologin Mira Wallis zieht in ihrer BLACK BOX EAST-Video-Lecture eine Bilanz der über Plattformen organisierten Arbeit zwischen Rumänien und Deutschland. Sehen Sie sich die Video-Lecture hier an: https://vimeo.com/607305462 *Infrastrukturkämpfe* Unter dem Stichwort „Aufbau“ wurden in der ehemaligen Sowjetunion riesige Infrastrukturprojekte gestemmt, die ein gigantisches Territorium zusammenhalten sollten, das sich über Osteuropa und den Kaukasus bis nach Zentral- und ganz Nordasien erstreckte. Heute, Jahrzehnte nach dem Untergang des zentral gelenkten, föderalen Einparteienstaates, ist das Infrastrukturnetz im Begriff, zu verfallen. Was eigentlich noch alarmierender ist: Statt diesen Vorgang aufzuhalten oder nachhaltige Entwicklungen auf den Weg zu bringen, wird der Zerfallsprozess durch Privatisierungen beschleunigt – auch oder gerade durch Privatisierungen unter dem Banner von aus dem Westen importierten „grünen“ Lösungen. Hier wie auch anderswo stehen die Interessen des privaten Sektors im Vordergrund, während das Gemeinwohl vernachlässigt wird. Anhand von Debatten über Infrastrukturprojekte wie Wasserkraftwerke und öffentliche Verkehrsmittel zeigen die Geographen Lela Rekhviashvili und Wladimir Sgibnev in ihrer BLACK BOX EAST-Video-Lecture, wie Bilder von Vergangenheit und Zukunft aktiviert werden, um eine kompromittierte Gegenwart zu verteidigen. Sehen Sie sich die Video-Lecture hier an: https://vimeo.com/591647451 *Disruptive Territory Ostdeutschland* Indem sie 1989 begannen, die Staatswirtschaft der DDR zu zerstören und Platz für einen entfesselten kapitalistischen Ausbau der Nation zu schaffen, schufen die Transformationsmanager*innen Ostdeutschlands Präzedenzfälle für Ideologien wie „kreative Zerstörung“ und „Disruption“. So kreierten sie ideale Voraussetzungen für kapitalistische Akteure wie zuletzt etwa Tesla, Amazon, Google und Red Bull. Indem sie disruptive Bedingungen als notwendige Grundlage für zukunftsträchtige Innovationen anpreisen, entfachen sie ein Blendwerk des Kapitals, das von der Missachtung rechtlicher Rahmenbedingungen, bürokratischer Verfahren, Arbeitnehmer*innenrechte uvm ablenkt. Die Radikalisierung exzessiver und ausbeuterischer Ökonomien im „Osten“ nicht zuletzt deshalb möglich, weil der mediale Diskurs die Region zwischen „Rückständigkeit“ und „Avantgarde“ in der Schwebe hält – dem Stigma einer dunklen Vergangenheit und dem Versprechen einer strahlenden Zukunft. In seiner BLACK BOX EAST-Video-Lecture zeigt der Politikwissenschaftler und Kurator Stefan Kausch: Indem „der Osten“ als eine derart ambivalente Normalitätsklasse konstruiert wird, können die Interessen des Kapitals quasi nach Belieben bedient werden. Sehen Sie sich die Video-Lecture hier an: https://vimeo.com/607330400 Alle Video-Lectures finden sich auf der BLACK BOX EAST-Webseite gebündelt: https://blackboxeast.berlinergazette.de Falls Sie auf Twitter sind, freuen wir uns einen Re-tweet dieses Tweets: https://twitter.com/berlinergazette/status/1439860724541558785 Gruss, Krystian Woznicki PS: In diesem Zusammenhang ist auch die Kooperation mit dem Transnational Institute Amsterdam und den Herausgeber*innen des Buches „The Political Economy of Eastern Europe 30 years into the 'Transition': New Left Perspectives from the Region“ entstanden. Wir veranstalten gemeinsam eine Reihe von vier Webinaren auf dem Big-Blue-Button-Server der Berliner Gazette. Das erste trägt den Titel „Class, geopolitics, and civil society in post-soviet political protests“ und findet am 23. September um 18 Uhr Amsterdamer Zeit statt. Hier ist der Link zu weiteren Informationen und zur Anmeldung: https://www.tni.org/en/webinar/class-geopolitics-and-civil-society-in-post-soviet-political-protests -- -------------------------------------------------------------- BG – Berliner Gazette | since 1999 | https://berlinergazette.de -------------------------------------------------------------- BLACK BOX EAST – "Post-Communist" Laboratories of Globalization BG Project 2021: Workshops, Texts + Artworks https://blackboxeast.berlinergazette.de -------------------------------------------------------------- SILENT WORKS – The Hidden Labor in AI-Capitalism BG Project 2020: Exhibition, Conference + Texts https://silent-works.berlinergazette.de -------------------------------------------------------------- MORE WORLD – How Can We Cooperate Across Borders to Tackle Climate Change? Results from BG’s 20th Anniversary Event: Videos, Audios, Projects + Texts https://more-world.berlinergazette.de -------------------------------------------------------------- -- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.in-mind.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.in-mind.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/