Le Monde diplomatique
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12. März 2020

Woher kommt das Coronavirus?

Viele Erreger von Infektionskrankheiten stammen von Tieren. Allerdings kommt
selten zur Sprache, dass bei der Übertragung auf den Menschen die Zerstörung
von Lebensräumen eine zentrale Rolle spielt

Von Sonia Shah 

Könnte es ein Schuppentier sein? Eine Fledermaus? Oder womöglich eine
Schlange? Der Wettlauf ist eröffnet, wer als Erster das Wildtier
identifizieren wird, von dem das Coronavirus stammt, offiziell als
Sars-CoV-2 bezeichnet. 

Infolge des Virus, das die als Covid-19 bezeichnete Erkrankung auslöst,
wurden in China und anderen Ländern viele Millionen Menschen unter
Quarantäne gestellt oder in Sperrzonen von der Umwelt abgeschottet.
Natürlich ist es wichtig, das Rätsel der Herkunft zu lösen. Noch viel
wichtiger ist allerdings, zu erkennen, dass unsere zunehmende Verwundbarkeit
durch Pandemien eine tiefere Ursache hat: die immer raschere Zerstörung von
Lebensräumen. 

Seit 1940 sind hunderte krankmachende Erreger in Regionen neu aufgetaucht
oder wieder aufgetaucht, wo manche von ihnen nie zuvor beobachtet wurden.
Das gilt für HIV, für Ebola in Westafrika, für das Zikavirus auf dem
amerikanischen Kontinent und eine Vielzahl neuer Coronaviren. Die Mehrheit
dieser Erreger (60 Prozent) sind tierischen Ursprungs. Einige stammen von
Haustieren oder Nutztieren, aber die meisten (mehr als zwei Drittel) von
Wildtieren. 

Die Tiere können nichts dafür. Obwohl immer wieder Wildtiere als Ursprung
zerstörerischer Epidemien dargestellt werden [1], ist die Annahme falsch,
sie seien besonders häufig mit todbringenden Erregern infiziert, die
jederzeit auf Menschen überspringen können. Tatsächlich lebt der größte Teil
der Mikroben in den Wildtieren, ohne ihnen im Geringsten zu schaden. Das
Problem liegt woanders: Durch die immer massivere Abholzung der Wälder und
die wachsende Urbanisierung haben wir diesen Mikroben Wege eröffnet, den
menschlichen Körper zu erreichen und sich entsprechend anzupassen. 

Durch die Zerstörung der Lebensräume droht zahlreichen Arten die Ausrottung
[2], darunter auch Heilpflanzen und Tieren, die in unseren Arzneibüchern
seit jeher ihren Platz haben. Den überlebenden Arten bleibt nichts anderes
übrig, als sich in die reduzierten Lebensräume zurückzuziehen, die ihnen die
menschlichen Siedlungen übrig lassen. Dadurch erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit, dass sie in engen Kontakt mit Menschen kommen, und so
können Mikroben, von denen sie besiedelt sind, in unsere Körper gelangen, wo
sie sich möglicherweise in tödliche Krankheitserreger verwandeln. 

Fledermausspeichel im Obstgarten 

Ebola ist ein gutes Beispiel dafür. Als Ursprung des Virus wurden
verschiedene Fledermausarten identifiziert. Eine 2017 durchgeführte
Untersuchung hat gezeigt, dass Ausbrüche des Virus häufiger in solchen
Gebieten Zentral- und Westafrikas vorkamen, in denen kurz zuvor Wälder in
großem Stil gerodet worden waren. Wenn man die Bäume der Fledermäuse fällt,
zwingt man sie, auf Bäume in unseren Gärten und auf unseren Farmen
auszuweichen. 

Wie es dann weitergeht, ist leicht vorstellbar: Ein Mensch beißt in eine
Frucht, die von Fledermausspeichel bedeckt ist. Oder jemand tötet eine
Fledermaus, die in sein Haus geflogen ist, und kommt dabei mit dem Erreger
in Kontakt. So springen viele Viren, die für die Fledermäuse harmlos sind,
auf menschliche Populationen über - neben dem Ebola- auch das Nipah-Virus
(vorwiegend in Malaysia und Bangladesch) und das Marburg-Virus (in
Ostafrika). 

Wenn dieses "Überschreiten der Artengrenze" häufiger geschieht, besteht die
Möglichkeit, dass sich die Mikroben aus tierischen Organismen an den
Menschen anpassen und so weiterentwickeln, dass sie zu Krankheitserregern
werden. 

Auch bei Krankheiten, die von Mücken übertragen werden, wurde ein
Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Epidemien und Abholzung festgestellt
[3] - mit dem Unterschied, dass es hier weniger um den Verlust von
Lebensräumen als um deren Umgestaltung geht. Mit den Bäumen verschwinden
auch die Laubschicht auf dem Boden und die Wurzeln. Wasser und Sedimente
können leichter über solche schutzlosen, von der Sonne ausgetrockneten Böden
fließen und Pfützen bilden, in denen sich Mücken vermehren. Laut einer
Untersuchung in zwölf Ländern kommen Mücken, die für den Menschen
gefährliche Erreger übertragen, in abgeholzten Gebieten doppelt so häufig
vor wie in Gebieten mit intakten Wäldern. 

Die Zerstörung der Lebensräume verändert auch die Populationsgrößen der
verschiedenen Arten, was wiederum das Verbreitungsrisiko eines
Krankheitserregers erhöhen kann. Das West-Nil-Virus beispielsweise wird von
Zugvögeln übertragen. Durch den Verlust von Lebensräumen und andere
Zerstörungen ist deren Zahl in Nordamerika in den letzten 50 Jahren um ein
Viertel zurückgegangen, wobei nicht alle Arten gleichermaßen betroffen sind.


Sogenannte Spezialisten (für einen bestimmten Lebensraum) wie Spechte und
Rallen leiden stärker unter den Zerstörungen als Generalisten wie
Rotkehlchen und Krähen, die besonders gute Überträger sind. Deshalb ist das
Virus bei diesen Vögeln sehr verbreitet, was die Wahrscheinlichkeit erhöht,
dass eine Mücke erst einen infizierten Vogel sticht und dann einen
Menschen.[4] 

Genauso ist es bei Krankheiten, die durch Zecken übertragen werden. Im
Nordosten Amerikas fressen sich die Städte immer weiter in die Wälder und
vertreiben Tiere wie die Opossums, die die Population der Zecken unter
Kontrolle halten, während andere Arten wie die Weißfußmaus und der Hirsch
weiter gedeihen. So können sich durch Zecken übertragene Krankheiten wie die
Lyme-Borreliose, die in den USA erstmals 1975 auftrat, leichter ausbreiten.
In den letzten 20 Jahren wurden sieben neue Krankheitserreger identifiziert,
deren Überträger Zecken sind.[5] 

Nicht nur der Verlust von 'Lebensräumen vergrößert das Risiko von
Krankheitsausbrüchen, sondern auch, wie wir mit Tieren umgehen, die für den
menschlichen Verzehr vorgesehen sind. Manche von ihnen gelangen in den
illegalen Handel oder werden auf sogenannten "wet markets" verkauft -
Märkten, auf denen lebendige (oder frisch geschlachtete) Tiere gehandelt
werden. 

Dort sitzen verschiedene Tiere, die sich in der freien Natur wohl niemals
begegnet wären, in Käfigen nebeneinander, und die Mikroben können fröhlich
vom einen zum anderen wandern. Genau auf diese Weise konnte 2002/03 das
Coronavirus entstehen, das für die Sars-Epidemie (Schweres Akutes
Atemwegssyndrom) verantwortlich war, und möglicherweise ist dies auch der
Ursprung des neuen Coronavirus. 

Die vielen Tiere in unserem System der industriellen Fleischproduktion
werden, bevor sie im Schlachthof enden, auf engstem Raum zusammengepfercht
gehalten: ideale Bedingungen für die Verwandlung von Mikroben in tödliche
Krankheitserreger. Wenn beispielsweise Vogelgrippeviren, deren Wirtstiere
wildlebende Wasservögel sind, in Geflügelmastbetriebe eindringen, mutieren
sie und werden sehr viel gefährlicher als in freier Wildbahn. 

Dieser Vorgang erfolgt so zuverlässig, dass er sich im Labor reproduzieren
lässt. Ein Stamm des Influenza-A-Virus, H5N1, überträgt sich auch auf den
Menschen und tötet über die Hälfte der infizierten Personen. 2014 musste in
Nordamerika millionenfach Geflügel gekeult werden, um die Ausbreitung einer
anderen Variante von Influenza-A zu stoppen.[6]

Die Berge von Ausscheidungen, die unser Nutzvieh produziert, bieten Mikroben
tierischen Ursprungs weitere Gelegenheiten, Menschen zu infizieren. Weil
unendlich viel mehr Exkremente anfallen, als die landwirtschaftlich
genutzten Flächen in Form von Dünger aufnehmen können, werden sie häufig in
nicht abgedichteten Jauchegruben abgeladen - der ideale Lebensraum für das
Bakterium Escherichia coli. 

Über die Hälfte der Tiere in US-amerikanischen Mastbetrieben ist damit
infiziert, aber das Bakterium schadet ihnen nicht.[7] Bei Menschen
verursachen solche Varianten von Kolibakterien (wie Ehec), die nicht
natürlich im menschlichen Darm vorkommen, hingegen blutige Durchfälle und
Fieber und können zu akutem Nierenversagen führen. Und weil die
Ausscheidungen der Tiere nicht selten in unser Trinkwasser und unsere
Lebensmittel gelangen, sind allein in den USA jedes Jahr 90.000 Menschen
davon betroffen. 

Masern von Kühen, Grippe von Enten 

Es passiert heute zwar immer häufiger, dass tierische Mikroben zu
menschlichen Krankheitserregern mutieren, aber das Phänomen ist nicht neu.
Erstmals aufgetreten ist es um die Zeit der neolithischen Revolution, als
der Mensch begann, Lebensräume in der Wildnis zu zerstören, um Ackerland zu
gewinnen und Tiere zu domestizieren. Im Gegenzug haben die Tiere uns einige
vergiftete Geschenke gemacht: Die Masern und die Tuberkulose verdanken wir
den Kühen, den Keuchhusten den Schweinen und die Grippe den Enten. 

Dieser Prozess ging während der kolonialen Expansion Europas weiter: Im
Kongo ließen die belgischen Kolonisatoren Eisenbahnen und Städte bauen.
Dadurch ermöglichten sie es den Lentiviren, mit denen die einheimischen
Makaken infiziert waren, sich immer besser an den menschlichen Körper
anzupassen. 

In Bangladesch drangen die Briten in die riesigen Mangrovenwälder der
Sundarbans vor, um Reisfarmen zu errichten. Dadurch gerieten die dort
lebenden Menschen mit den Bakterien in Kontakt, die sich im Brackwasser
aufhielten. Die Pandemien, die durch das Vordringen in der Kolonialzeit
ausgelöst wurden, verfolgen uns bis heute. Aus dem Lentivirus der Makaken
wurde HIV. Das Wasserbakterium der Sundarbans wurde unter dem Namen Cholera
bekannt und hat bis heute sieben Pandemien verursacht. 

Zum Glück sind wir nicht nur passive Opfer dieser Vorgänge. Wir können auch
viel tun, um das Risiko krankmachender Mikroben zu mindern - etwa die
Lebensräume der Wildtiere schützen, damit sie ihre Mikroben nicht auf uns
übertragen. Die Initiative One Health der Weltgesundheitsorganisation etwa
hat sich genau dies zum Ziel gesetzt.[8] 

Wir können für eine engmaschige Überwachung der Milieus sorgen, in denen
Tiermikroben besonders leicht zu Krankheitserregern für Menschen mutieren.
Dabei müssen wir versuchen, solche Mikroben zu eliminieren, die Zeichen der
Anpassung an den menschlichen Organismus zeigen, bevor sie Epidemien
auslösen. Genau darum kümmert sich seit zehn Jahren das Programm Predict,
das von der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit (USAID) finanziert
wird. 

Die Wissenschaftler von Predict haben bereits mehr als 900 neuartige Viren
identifiziert, deren Entstehung damit zusammenhängt, dass immer mehr
Regionen auf der Erde den Stempel menschlicher Eingriffe tragen. Zu diesen
Viren zählen auch bislang unbekannte Stämme des Coronavirus, die ebenfalls
dem Sars-Virus ähneln.[9] 

Heute droht uns eine neue Pandemie, und das nicht nur wegen Sars-CoV-2. Die
Bestrebungen der Trump-Regierung, die Industrie von allen Umweltauflagen und
sonstigen Einschränkungen zu befreien, wird in den USA unweigerlich dazu
führen, dass immer mehr Lebensräume zerstört werden, und das begünstigt
wiederum die Übertragung tierischer Mikroben auf den Menschen. 

Gleichzeitig schmälert die US-Regierung die Chancen, gefährliche Erreger
aufzuspüren, bevor sie sich verbreiten können: Im Oktober 2019 hat sie
beschlossen, das Programm Predict zu beenden. Und Anfang Februar 2020 hat
sie angekündigt, die Beiträge für das Budget der Weltgesundheitsorganisation
um 53 Prozent zu kürzen. 

Der Epidemiologe Larry Brilliant hat einmal gesagt: "Virusausbrüche sind
unvermeidlich, Pandemien hingegen lassen sich vermeiden." Doch wir werden
Pandemien nur vermeiden können, wenn wir bei der Veränderung der Politik
ebenso entschlossen vorgehen, wie wir es bei den Eingriffen in die Natur und
das Leben der Tiere getan haben. 

[1] Siehe Kai Kupferschmidt, "This bat species may be the source of the
Ebola epidemic that killed more than 11.000 people in West Africa", Science
Magazine, Washington, D.C./Cambridge, 24. Januar 2019, 
http://doi.org/10.1126/science.aaw7864

[2] Siehe Jonathan Watts, "Habitat loss threatens all our futures, world
leaders warned", The Guardian, London, 17. November 2018, 
https://gu.com/p/avz98/

[3] Siehe Katarina Zimmer, "Deforestation tied to changes in disease
dynamics", The Scientist, New York, 29. Januar 2019, 
https://www.the-scientist.com/news-opinion/--65406

[4] Siehe BirdLife International, "Diversity of birds buffer against West
Nile virus", ScienceDaily, 6. März 2009, 
https://www.sciencedaily.com/releases/2009/02/090220191318.htm

[5] Siehe "Lyme and other tick borne diseases increasing", Centers for
Disease Control and Prevention, 22. April 2019, 
https://www.cdc.gov/media/dpk/diseases-and-conditions/lyme-disease/

[6] Sonia Shah, "What you get when you mix chickens, China and climate
change", The New York Times, 5. Februar 2016,
https://nyti.ms/1R9nhew oder http://archive.is/BMaUN
ln Deutschland wurde bereits im Frühjahr 2006 massenhaft Geflügel in
Zuchtbetrieben gekeult. 

[7] Cristina Venegas-Vargas u.a., "Factors associated with Shiga
toxin-producing Escherichia coli shedding by dairy and beef cattle", Applied
and Environmental Microbiology, Bd. 82. Nr.16, Washington, D.C., August
2016. 
http://doi.org/10.1128/AEM.00829-16

[8] Predict Consortium, One Health in Action case study booklet, EcoHealth
Alliance, New York, Oktober 2016. 
https://www.cbd.int/health/onehealth-casestudies2016-final-en.pdf

[9] "What we've found", One Health Institute, ohi.sf.cd-avis.edu. 
https://ohi.vetmed.ucdavis.edu/what-weve-found

Sonia Shah ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin unter anderem von
"Pandemic: Tracking Contagions, from Cholera to Ebola and Beyond". New York
(Sarah Crichton Books) 2016. 
https://soniashah.com/pandemic-the-book/

Dieser Text erschien zuerst in The Nation.
https://www.thenation.com/article/environment/coronavirus-habitat-loss/


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