Österreichischer Rundfunk ORF
https://science.orf.at/stories/3201023/

24. Juni 2020 

Mobilitätswende ist Einstellungssache

Die Verkehrswende muss sich zuerst in den Köpfen der Menschen abspielen, man
sollte sich von der Obsession lösen, sie durch technische Umstellungen lösen
zu können, meinen Experten. Nachdem man über 70 Jahre lang Strukturen
förderte, die das Selbstbewusstsein der Leute von ihren Autos abhängig
machten, sei das nicht leicht.

"Wir verfehlen gerade im Verkehrsbereich die Klimaziele trotz aller
technischer Fortschritte weit", sagte Jens Dangschat [1], der an der
Fakultät für Architektur und Raumplanung der Technischen Universität (TU)
Wien forscht. Während in allen anderen Bereichen die schädlichen Emissionen
seit den 1990er Jahren zurückgingen, stiegen sie im Verkehrssektor. 

Dafür sei vor allem der "Rebound-Effekt" verantwortlich, also dass
Verhaltenseffekte die technischen Fortschritte kompensieren. "Die Leute
fahren immer mehr, immer weiter, immer länger und bewegen immer mehr Tonnen
durch die Gegend, weil die Autos immer größer werden und der Anteil der SUVs
steigt", sagte Dangschat in einer Online-Pressekonferenz des
"Diskurs-Wissenschaftsnetzes".

Auch „Wohnwende“ nötig

Derzeit werde dem Auto zu viel Bedeutung zugemessen, es sei die wichtigste
Investition für die Leute gleich nach dem Wohnen, was aber unter anderem
auch daran liege, dass man über 50 Jahre lang "autoaffine
Siedlungsstrukturen" aufgebaut habe. Deswegen brauche es eine unterstützende
"Wohnwende", sagte Astrid Gühnemann [2] vom Institut für Verkehrswesen der
Universität für Bodenkultur (Boku) Wien.

Es gebe einen massiven Trend zu Einfamilienhäuser-Siedlungen in Stadtnähe,
die schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Rad oder zu Fuß
erreichbar sind. Gühnemann plädiert dafür, bei solchen Siedlungen die
Verbindungen zu Knotenpunkten des öffentlichen Verkehrs zu fördern, etwa
durch Elektrofahrräder und eine sichere, gut vernetzte Radinfrastruktur
sowie Geschwindigkeitsreduktionen.

Aktuell droht der Autoverkehr wieder mehr zu werden, weil die Leute den
öffentlichen Verkehr aufgrund der Ansteckungsgefahr mit Sars-Cov-2 eher
meiden. Immerhin nutzten viele Städte wie Wien die Krise, um neue Dinge wie
Pop-up-Radwege auszuprobieren, um die Nahmobilität verstärkt zu fördern,
sagte Harald Frey [3] vom Institut für Verkehrswissenschaft der TU Wien.

red, science.ORF.at/Agenturen

[1] https://soziologie.tuwien.ac.at/team/jens-s-dangschat/
[2] https://boku.ac.at/rali/verkehr/personen/astrid-guehnemann
[3] https://tiss.tuwien.ac.at/person/52601

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Wiener Zeitung
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/2065455.html

24.06.2020

"Die Mobilitätswende muss in unseren Köpfen stattfinden"

Das Lenkgrad fest im Griff: Egal ob in die Arbeit, in den Urlaub, in den
Supermarkt. Dabei müssten wir umdenken

Bernd Vasari

Wie weit Anspruch und Wirklichkeit bei der Klimawende auseinanderklaffen,
zeigt sich deutlich an der geplanten Rettung der AUA-Mutter Lufthansa. Nicht
nur, dass der deutsche Staat neun Milliarden Euro in ein umweltschädliches
Verkehrsmittel investieren will, muss er sich von Lufthansa-Hauptaktionär
Heinz Hermann Thiele auch noch am Nasenring durch die Manege ziehen lassen.
Denn statt Dank für die großzügige Unterstützung wehrt sich Thiele gegen
eine Staatsbeteiligung. Der 79-Jährige hält 15,52 Prozent und könnte mit
einem Nein sogar den Plan auf der außerordentlichen Hauptversammlung am
Donnerstag zu Fall bringen.

Selten wurde die Schwäche eines Staates - in diesem Fall das
wirtschaftsstärkste Land der EU - so offengelegt. Dabei wären starke Staaten
gerade jetzt notwendig, um strukturelle Änderungen für eine Klimawende
umzusetzen. Änderungen, die vor allem die Mobilität betreffen sollten.
Während Energie, Industrie, Wohngebäude und Landwirtschaft seit 1990 immer
weniger Emissionen ausstoßen, steigen sie im Verkehr weiterhin an. Knapp 30
Prozent der gesamten CO2-Emissionen der EU stammen aus diesem Bereich. 72
Prozent davon entfallen auf den Straßenverkehr.

"Wir haben drei Jahrzehnte verschlafen, was den Wandel im Verkehr betrifft",
erklärt Harald Frey, Verkehrswissenschafter an der Technischen Universität
in Wien. "Wir sind noch immer abhängig vom fossilen Verkehrssystem." Statt
etwas zu ändern, würde der Staat hingegen Fluglinien retten und zu wenig auf
die Schiene setzen. In Österreich sollten alle nationalen Flugverbindungen
eingestellt werden, fordert Frey. Auch der Ausbau von Schnellstraßen und
Autobahnen sollte gestoppt werden. "Die Gelder müssen umgelenkt werden in
die Öffis und den Radverkehr. Da gibt es vor allem im ländlichen Raum große
Potenziale."

Frey ist seit 15 Jahren in der Verkehrswissenschaft tätig. "Es ist müßig
über Maßnahmen zu sprechen, sie liegen ja auf dem Tisch", sagt er. "Es geht
vielmehr um den Prozess, der in Gang gebracht werden muss."

Jens Dangschat, Professor für Siedlungssoziologie, sieht das Problem in
einer Wertehierarchie, die stark hinterfragt werden muss. "Unser
Selbstbewusstsein baut auf einer Struktur auf, in der das Auto im
Mittelpunkt steht", sagt Dangschat. "Wir haben uns festgelegt: Nach dem
Wohnen, ist das Auto die wichtigste Investition." Man fährt mit dem Auto zum
Supermarkt, obwohl man auch mit dem Rad fahren könnte, man träumt vom
abseitsgelegenen Einfamilienhaus im Grünen, das nur mit dem Auto erreicht
werden kann.

Das Ergebnis: Der Verkehr ist der einzige Bereich, bei dem der Ausstoß der
Treibhausgase gestiegen ist. Trotz aller Technologie und besseren
Abgasfiltern. "Die Nachfrage nach größeren Autos, vor allem SUV steigt und
die Menschen fahren mehr und länger", erklärt Dangschat. "Das Auto ist tief
in unserem Alltagsverständnis verankert. Die Mobilitätswende muss daher in
unseren Köpfen stattfinden."

E-Autos sind kein Allheilmittel

Mit Strom betriebene Fahrzeuge sieht er allenfalls als Brückentechnologie,
schließlich sei die Erzeugung umweltschädlich. Auch die als Allheilmittel
beworbenen Selbstfahrenden Autos - weniger Stau, keine Parkplatzsuche -
würden nicht für eine grüne Mobilitätswende taugen. Es gebe damit nur mehr
Verkehr durch Jüngere ohne Führerschein bis hin zu Älteren, die dann auch
fahren würden. Außerdem fördern Selbstfahrende Autos die Zersiedelung, weil
dann egal ist, wie lange man fährt, da man nicht mehr selbst lenken muss und
daneben andere Dinge tun kann.

Astrid Gühnemann, Professorin für Verkehrswesen und nachhaltige Entwicklung
an der Wiener Universität für Bodenkultur (Boku) weist darauf hin, dass in
Österreich täglich Flächen in der Größe von zwei Fußballfeldern versiegelt
werden. Vor allem für Einfamilienhäuser.

Eine Mobilitätswende sei daher nur gemeinsam mit einer Wohnungswende
möglich, sagt Gühnemann. "Das wird nicht von heute auf morgen funktionieren,
aber wir müssen jetzt damit anfangen."

In der deutschen Regierung überlegt man einstweilen, wie ein Scheitern des
Lufthansa-Rettungspakets abgewendet werden könnte. Nach
Reuters-Informationen aus Verhandlungskreisen ist ein Plan B angedacht.
Dieser sieht vor, in zwei Schritten zu einem Anteil von 20 Prozent an der
Lufthansa zu kommen, ohne dass eine Hauptversammlung notwendig wäre.

Ob sich Regierungen zu solch kreativen Ansätzen auch durchringen können,
wenn es um die Klimawende geht, bleibt abzuwarten. Sie wären jedenfalls
dringend notwendig.


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