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Posted on: Tuesday, December 15, 2020 7:04 AM
Author: Eva Rechsteiner
Subject: Schön gerechnet

Zu Netto-Null-Emissionen bekennen sich Autokonzerne, Staaten und Fridays for 
Future - mit Klimagerechtigkeit hat das wenig zu tun. Maßnahmen, die durch 
CO2-Reduktion eine Klimaneutralität anstreben, haben oft negative 
(Umwelt-)Auswirkungen

Von Eva Rechsteiner

Nach Daimler jetzt auch Audi: Der Automobilhersteller möchte seine Autowerke 
bis 2025 klimaneutral machen. Ende November veröffentlichte der 
IT-Branchenverband Bitkom eine Umfrage [1], laut der fast jedes zweite 
Unternehmen in Deutschland klimaneutral werden möchte. Die Hälfte dieser 
Unternehmen strebt die Klimaneutralität in den nächsten zehn Jahren an.

Neben diversen Unternehmen setzen sich auch Staaten das Ziel, klimaneutral zu 
werden. Nach China, Japan und Südkorea beschloss nun auch Kanada ein 
entsprechendes Vorhaben. Die EU und Deutschland wollen bis 2050 klimaneutral 
werden, China bis 2060. Auf kommunaler Ebene bewirkte die politische 
"Klima-Druckwelle", die sich mit Fridays for Future vor einem Jahr durch die 
Städte zog, eine Reihe von vorgezogenen Zielen. Derzeit wird in vielen 
Gemeinderäten die Klimaneutralität bis 2030 verhandelt; einige Städte wie 
Münster, Tübingen und Erlangen haben dieses ehrgeizige Ziel bereits 
verabschiedet.

Für die Klimaneutralität sind verschiedene Begriffe wie Treibhausgasneutralität 
oder Netto-Null-Emissionen im Umlauf. Gemein ist diesen, dass es keine 
offizielle Definition gibt. Im Grunde beinhaltet der Terminus, dass auf unser 
Ökosystem bezogen netto kein Kohlendioxid und keine anderen Treibhausgase wie 
Methan oder Lachgas freigesetzt werden. Netto bedeutet, dass CO2-Emissionen 
durch Reduktion an anderer Stelle eingespart werden.

Die "Einsparung an anderer Stelle" ebnet Ausgleichsverrechnungen den Weg. Das 
führt dazu, dass Unternehmen und staatliche Institutionen, die klimaneutral 
werden wollen, nicht selbst vor Ort Emissionen senken, sondern sich durch eine 
vermeintliche Reduktion in anderen Ländern - meist im Globalen Süden - 
"neutralisieren". So setzen Unternehmen wie Daimler oder Audi zur Erreichung 
der Klimaneutralität größtenteils auf eine Verrechnung der 
Kohlendioxidemissionen mit Ausgleichszertifikaten oder Ökostrom. Bilanziell 
führt dies zu "Netto-Null"-Emissionen, während vor Ort immer noch genauso viel 
Kohlendioxid ausgestoßen wird. Die CO2-Einsparung durch sogenannte 
Kompensationsprojekte in anderen Ländern ist zudem deutlich geringer, als 
suggeriert oder berechnet wird.

Kritik an Kompensationsprojekten

Eine andere, vor allem von Staaten und der Zementindustrie propagierte 
Ausgleichsverrechnung ist die CO2-Abscheidung. Diese Technik, auch Carbon 
Capture and Storage (CCS) genannt, scheidet das Kohlendioxid aus 
Produktionsanlagen ab und speichert es im Boden. Neben dem erhöhten 
Energieaufwand für die Abscheidung, den Transport und die Speicherung entstehen 
zudem Risiken für das Grundwasser und den Boden vor allem durch Leckagen von 
CO2.

Das Instrument der Kompensation basiert darauf, dass sich westliche Länder um 
den Ausgleich von Emissionen im Globalen Süden bemühen und nicht um eine 
Reduzierung im eigenen Land. Die Kritik an den Kompensationsmechanismen ist 
vielfältig: Aufforstungsprojekte können geopolitische Konflikte um 
Landnutzungsrechte verursachen und traditionelle Landrechte indigener Völker in 
Gefahr bringen. Eine Studie des Öko-Instituts zeigte, dass viele Projekte auch 
ohne Kompensationsinvestitionen umgesetzt worden wären. Die 
Kompensationsmaßnahmen erfüllen also selten das Kriterium der Zusätzlichkeit 
[2]. Manche Projekte wurden bereits vor Jahren umgesetzt und im Nachhinein 
angerechnet, oder Emissionen wurden im Vorfeld künstlich nach oben getrieben. 
Kompensationsprojekte führen also selten dazu, dass Emissionen eingespart 
werden, aber häufig dazu, dass Menschen im Globalen Süden von Industrieländern 
weiter bevormundet werden. Kritisch ist zudem, dass durch die Bepreisung von 
CO2 die Umwelt zu einer Ware degradiert wird und dies den Trend der 
Finanzialisierung der Natur weiter ausbaut.

Natürlich gibt es auch einige Anbieter, die hohe Qualitätsanforderungen an 
Kompensationsprojekte stellen. So zum Beispiel der Gold Standard, der den 
Ausschluss von Großprojekten wie Staudämme, Aufforstungs- oder 
Industriegasprojekte und die Forderung nach Zusatznutzen wie 
Einkommenssteigerung oder Biodiversität beinhaltet. Dennoch werden auch diese 
Standards von Nichtregierungsorganisationen wie Friends of the Earth, Climate 
Justice Now oder World Rainforest Movement als "Feigenblatt im 
Kohlenstoffmarkt" kritisiert, die eingefahrene Muster des Kapitalismus, 
Kolonialismus und Patriarchats aufrechterhalten. Zudem liegt der CO2-Preis pro 
eingesparte Tonne laut Umweltbundesamt auch für Projekte mit hohem Standard nur 
bei 2 bis 23 Euro pro Tonne. Um die tatsächlichen Umweltfolgekosten zu 
internalisieren, ist dies viel zu niedrig, hier empfiehlt das Umweltbundesamt 
[3] 180 Euro pro Tonne.

Die Bundesregierung unterstützt diese Verrechnung mit Ausgleichszertifikaten. 
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit 
initiierte vor zwei Jahren die "Allianz für Entwicklung und Klima" und wirbt 
aktiv bei Unternehmen und Kommunen mit günstigen Ausgleichszertifikaten. ALDI 
Süd, die Bundesliga und der Freistaat Bayern finanzieren mit wenig Geld und mit 
Hilfe der Allianz Aufforstungsprojekte in Kenia oder Mangrovenverpflanzungen im 
Senegal. Unterdessen wird bei uns der Dannenröder Wald für ein 
Infrastrukturprojekt aus dem letzten Jahrhundert gerodet.

Auch Klimagruppen sind für die Netto-Null

Es ist nicht neu, dass Unternehmen Greenwashing betreiben. Gefährlich wird es, 
wenn Gruppen aus der Klimagerechtigkeit sich positiv auf Klimaneutralität 
beziehen und ihn als Forderung an die Politik stellen. So fordern Gruppen wie 
Extinction Rebellion oder Fridays for Future die Netto-Null schon bis 2025 bzw. 
2035. Das kann dazu führen, dass Unternehmen und staatliche Institutionen 
Ausgleichsverrechnungen wählen, um das Ziel schnell zu erreichen, statt den 
Schwerpunkt auf Maßnahmen zu legen, die langfristig zu einer großen 
Transformation führen.

Das Ziel der Klimaneutralität richtet den Fokus auf die Quantifizierung von 
Treibhausgasen. Alles wird gemessen und bewertet - und nur die Maßnahmen mit 
direkt messbaren CO2-Einsparungen werden umgesetzt. Die alleinige Konzentration 
auf den Gehalt des Kohlendioxidausstoßes in der Atmosphäre blendet andere 
Umweltauswirkungen aus wie den Verlust der biologischen Vielfalt, der Erosion 
und die Belastung fruchtbarer Böden. Maßnahmen, die durch CO2-Reduktion eine 
Klimaneutralität anstreben, haben oft sogar negative (Umwelt-)Auswirkungen. So 
kann der Bau von Staudämmen zur erneuerbaren Stromerzeugung zur Überflutung von 
unberührten Ökosystemen und zur Vertreibung der lokalen Bevölkerung führen. Der 
Anbau von Biokraftstoffen verursacht Monokulturen, die Rodung von Regenwäldern 
und die Erhöhung der Lebensmittelpreise im Globalen Süden.

Klimaneutrale Maßnahmen bauen darauf, dass Treibhausgase Priorität haben vor 
Biodiversität, sauberer Luft und Wasser, Lärmschutz und Gesundheit. Andere 
Indikatoren wie Geschlechtergerechtigkeit und Ressourcenschonung werden zu 
"co-benefits" heruntergestuft. Klimaneutralität setzt auf 
End-of-Pipe-Techniken, bekämpft nur die Symptome und ist damit ein begrenzter 
Ansatz, um ein viel größeres Problem zu erfassen. Die unter dem Zeichen der 
Klimaneutralität vollzogenen Tauschgeschäfte ebnen hinterrücks den Weg für neue 
Ressourcenplünderungen in Ländern des Globalen Südens.

Die Ziele der Klimaneutralität suggerieren, dass wir unsere imperiale 
Lebensweise und unser Konsumniveau aufrechterhalten können - sofern wir es 
klimaneutral hinbekämen. Die Klimagerechtigkeitsbewegung muss reflektieren, 
welche Ziele sie erreichen möchte. Wenn die Begriffe "klimaneutral" und 
"Netto-Null-Emissionen" so eingesetzt werden, dass die Ziele aufgeweicht werden 
und harte Reduktionsmaßnahmen umgangen werden können, müssen diese Begriffe 
explizit vermieden oder Kriterien aufgestellt werden, die einen Missbrauch 
verhindern. Ein gutes Beispiel dafür ist der Antrag der örtlichen 
Fridays-for-Future-Gruppe an den Konstanzer Gemeinderat, der den Ausschluss von 
Kompensationsprojekten im Globalen Süden und enge territoriale Systemgrenzen 
vorsieht. 

Eva Rechsteiner [4] arbeitet am Institut für Energie- und Umweltforschung in 
Heidelberg mit Schwerpunkt kommunaler Klimaschutz. Sie engagiert sich in der 
Klimagerechtigkeitsbewegung und berät Gruppen wie Fridays for Future.

[1] 
https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Fast-jedes-zweite-Unternehmen-in-Deutschland-will-perspektivisch-klimaneutral-werden
[2] 
https://www.oeko.de/publikationen/p-details/how-additional-is-the-clean-development-mechanism
[3] 
https://www.umweltbundesamt.de/daten/umwelt-wirtschaft/gesellschaftliche-kosten-von-umweltbelastungen
[4] https://www.ifeu.de/team/eva-rechsteiner/

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