Es war Sonntag. Der Junge saß an seinem Transistorradio, so wie jeden Sonntag. 
Es muss kurz nach Mittag gewesen sein. Sonntage sind etwas Besonderes, sie 
atmen die Regelmäßigkeit, die besondere Tage an sich haben, die Erhabenheit, 
die Außergewöhnlichkeit. Der Junge freute sich, dass die Mutter ihn zum Essen 
gerufen hatte. "Punkt Zwölf" hatte die Mutter gesagt, wie sie es jeden Sonntag 
sagte. "Und dass du mir rechtzeitig zu Haus bist, es gibt Kalbsschnitzel und 
eine Erdäpfelsuppe." Natürlich war er rechtzeitig am Mittagstisch, der Junge, 
denn um nichts in der Welt wollte er versäumen, was danach im Radio geboten 
wurde. Das Fernsehen war der Brei, das Radio aber war die Nahrung, ein 
Grundnahrungsmittel. Der Sender hieß Ö3, er war die Heimat, noch bevor jemand 
zur Senderkennung schreiben musste, dass man hier "at home" sei. Der Sender 
hatte noch nicht die Not, gestreamlined zu werden, wie man heute dazu sagt. 
Glatt gebügelt, ebene Sendeflächen  bietend, als Bollwerk gegen die private 
Konkurrenz. Das Funkregal galt unverändert seit etwa 1919, senden durfte nur 
der Staat. Und der sendete was gut war, nicht das, was der Hörer wollte. Er 
sendete, was dem Hörer gut tat, auch wenn er im Reflex zu bestimmten 
Tageszeiten zum Ausschalter griff, präventiv quasi. Denn da gab es Ecken und 
Kanten, Stolpersteine, an die der Hörer gestoßen wurde, unerwartet, oft 
hinterlistig, die Hörgewohnheit formend und damit auch den Hörer selbst. Und so 
saß der Junge da, am Sonntag nach dem Mittagessen. Zwar noch mit anderem 
Kleinkram beschäftigt, mit einem Ohr die Nachrichten nicht bewusst wahrnehmend, 
aber immerhin hörend was da vor sich ging in der Welt. Die Kennmelodie der 
Sendung hatte die richtige Länge, um noch rasch die Tür zum Zimmer abzusperren. 
Von innen. Nichts sollte stören, nichts den Gedankenfluss unterbrechen der da 
für knapp 10 Minuten über den Äther strömte, aus dem Lautsprecher floss, direkt 
ins Hirn. Die Stimme im Radio war sonor, ruhig, aber eindringlich. Was der Mann 
sagte, war unmittelbar. Keine Schicht war zwischen dem Empfinden des Mannes und 
dem Empfinden des Jungen. Eine Infusion an Niveau war es, die da gegeben wurde. 
Der Junge spürte förmlich die Seele, die da im Radio sprach - er spürte sie in 
sich. Wohltuend war das Gefühl, aufbauend und unterhaltsam. Der Mann erzählte 
von den großen Dingen. Und er erzählte von kleinen Ereignissen, von Momenten, 
oft nur von Augenblicken, vom Besonderen, von dem was auffällt, wenn man mit 
wachem Geist durchs Leben geht. Von den Dingen, die es wert waren, berichtet zu 
werden. 
Von seiner Sendung sagte der Mann, dass er einen "Kassiber unter die Leute 
schmuggeln" wolle, eine Nachricht, wie sie die Gefangenen heimlich aus den 
Gefängnissen zu senden trachten, um die hohen Mauern zu überwinden, um die 
dumpfen Verließe zu verlassen, wenigstens mit ihrem Geist. Das sei, so spürte 
es auch der Junge, die einzige Möglichkeit. Mit dem Geist. Direkt und ohne jede 
Zensur. Daher hatte sich der Mann auch ausverhandelt, seine Texte niemals 
vorlegen zu müssen, bevor er sie verlas. Und er verlas sie mit der 
Regelmäßigkeit, die Tagebucheinträge haben. Woche für Woche verlas er sie. 
Sonntag für Sonntag. Fast ein viertel Jahrhundert lang. Am 29.Dezember 1993 ist 
die Stimme verstummt. Und sie hinterlässt heute, 20 Jahre später immer noch ein 
schales Gefühl der Leere am Sonntag um kurz nach Mittag. Das war der 
Schalldämpfer. Von Axel Corti.

     fra

link:
http://www.mediathek.at/atom/01785D63-01D-0A317-00000BEC-01772EE2
_______________________________________________
bagasch mailing list
bagasch@lists.monochrom.at
http://monochrom.at/mailman/listinfo/bagasch

Reply via email to