Kennt man das eigentlich noch? Den Begriff "Sicherheitsfaktor"? So lange man 
ihn nicht braucht, ist er normalerweise nur Technikern bekannt. Man berechnet 
beispielsweise im Maschinenbau die Dimensionen eines Motors für eine bestimmte 
Leistung. Dann multipliziert man die wesentlichen Größen mit dem 
Sicherheitsfaktor – etwa 2 oder 3. Das bedeutet, dass der Motor das doppelte 
oder dreifache leisten kann, nur so. Zur Sicherheit, falls sich jemand, der den 
Motor einsetzt, verrechnet hat. Und so fällt die Brücke nicht gleich in sich 
zusammen, wenn mal ein 4 Tonnen schweres Fahrzeug darüber rauscht, obwohl die 
Verkehrstafel nur 3,5 Tonnen zulassen würde. Auf Dauer würde es der Brücke wohl 
schaden, aber die Entscheider bekommen so die Zeit, etwas zu unternehmen.

Das Problem ist wohl die Erkenntnis, dass Sicherheitsfaktoren reduziert werden 
können, ohne die Funktionalität sichtbar zu beeinflussen. Ein lange Zeit fast 
unerschöpflicher Kostensenkungsfaktor, mit dem sich viele Controller in höchste 
Ämter hieven konnten, hoben sie doch Einsparungspotentiale, die der shareholder 
value des Produzenten zum Vorteil gereichten. Wie lange muss ein 
Computer-Monitor halten? Exakt bis 1 Tag nach Ablauf der Garantiefrist. Setzt 
man daher günstigere Bauteile ein, die exakt auf dieses Datum spezifiziert 
werden, also Bauteile ohne Sicherheitsfaktor, dann schafft man sogar 
zusätzlichen Umsatz weil die Monitore rascher kaputt werden - die sogenannte 
"geplante Obsoleszenz".

Bei einfachen Gebrauchsgegenständen fällt es nicht so sehr auf, wenn der 
Sicherheitsfaktor reduziert wird – bei sicherheitskritischen Systemen sehr 
wohl. Daher schreibt der Gesetzgeber für viele lebenswichtige oder 
lebensbedrohliche Systeme auch Sicherheitsfaktoren vor. Etwa für Staudämme, 
Atomkraftwerke, Autos oder Herzschrittmacher. Andere Bereiche sind gänzlich 
unreguliert. Aber darf man an der Feuerwehr sparen, nur weil es schon seit 
Jahren keinen Großbrand gegeben hat? Wie schnell sind Sicherheitsfaktoren wie 
etwa eine Personalreserve gestrichen und wie lange dauert es, um diese wieder 
aufzubauen? Gerade beim "Helfen, wo andere nicht mehr können" wird unglaublich 
viel zusammengestrichen um des lieben Geldes willen. Und ich vermute auch, weil 
man es nicht verantworten möchte, dass jemand untätig herum sitzt, der einfach 
nur für den Notfall da ist! Wer nur auf einen Notfall wartet ist ein schlechtes 
Beispiel für andere und muss sich rechtfertigen für die Untätigkeit...

Einige Systeme sind der offenen Kostenreduzierungswut von technisch unbedarften 
Optimierern voll unterworfen; IT-Systeme gehören schon seit Jahren zu den 
beliebtesten Jagdgründen des Controlling-Unwesens. Es geht hier lange gut und 
wenn etwas passiert, lässt sich die Schuld leicht auf die Unfähigkeit "der 
Computerleute" schieben. Es galt noch vor 20 Jahren als völlig normal, 
sicherheitskritische Schlüssel von Großunternehmen physisch an mehreren 
sicheren Stellen im Mindestabstand des Impactradius eines Atomschlags zu 
lagern: 9 km. Kostet Zeit und Aufwand, für den physischen Transport und die 
Sicherheit dieser Kopien zu sorgen. Überflüssig, weg damit!

Wenn ich also jetzt lese, dass das Innenministerium die Hauptschlüssel zum 
Server des Bundesamts für Korruptionsbekämpfung (und auch der Cobra) verloren 
hat, dann kann ich nur sagen: entweder möchte da jemand, dass eine bestimmte 
Sache nicht mehr weiterverfolgt wird – das wäre übel. Oder es wird den 
Technikern nicht mehr zugestanden, die Vorgaben für ein ordnungsgemäßes 
Funktionieren von Systemen machen zu dürfen – das wäre noch übler. Das 
Nicht-Zuhören. Das Besserwissen und Drüberfahren, weil alles nur mehr am Geld 
gemessen wird. Natürlich könnte man die NSA fragen, die hat doch sicher ein 
Backup von allen Daten. Aber es krankt am Prinzip. Mir geht es da nicht um 
Ideologie, sondern ich finde, das allgemein empfohlene Vorgehen erreicht 
langsam ein existenzbedrohendes Stadium.

Meine Einschätzung: der Cobra-Fall im BMI ist ein weiterer Warnschuß vor den 
Bug. Wir spielen ja auch mit den Systemen der Wasser- und Stromnetze, der 
Lebensmittelversorgung, der Verteidigung, der Pharmazie und der Legislatur. 
Nirgends mehr geht es um Grundversorgung oder Daseinsvorsorge, die auch im 
Notfall funktioniert. Kein Gesetzgeber kann das alles in einer Form regulieren, 
die den Verlust des gesunden Menschenverstandes am freien Markt wettmachen 
könnte. Die Zertifizierungsorgien aller möglichen Produkte sind nur ein matter 
Versuch, diese Auswüchse wieder in den Griff zu bekommen. Es wäre nur 
konsequent, Technikern wieder zu erlauben, Murphys Gesetz doch wieder zu 
beachten: Denn alles, was schief gehen kann, wird schiefgehen. Und das zum 
schlimmstmöglichen Zeitpunkt.

   fra
_______________________________________________
bagasch mailing list
bagasch@lists.monochrom.at
http://monochrom.at/mailman/listinfo/bagasch

Antwort per Email an