On Sun, Nov 18, 2001 at 11:00:00PM +0000, Mario Dueck wrote: [...]
> > Vor längerer Zeit hat Kristian das mal sehr anschaulich > > zerlegt. In Abhängigkeit von Software, Einstellungen, > > Cookies usw. kann eine Webseite sehr unterschiedliche > > Inhalte vermitteln. > > Mir geht es nicht darum, was eine Webseite theoretisch kann, sondern um > eine Analyse tatsächlicher Nutzungen, eben um soziale Praxen, die sich im > Gebrauch der Technologie bilden. Interessant finde ich dabei nicht so sehr > die exotischen Varianten (HTTP-over-News-over-UUCP-over-TCP/IP-mit-PGP- > und-SSH-over-etc.), sondern solche, die von allgemeiner Bedeutung sind, > weil sie massenhaft auftreten - etwa einfache Webseiten. Du hast teilweise Recht: Die soziale Praxis bestimmt das Geschehen zu einem gegebenen Zeitpunkt. Eine Website ist eine Veröffentlichung, wenn sie jedem im Wesentlichen dasselbe liefert, was soziale Praxis ist. Wenn man aber bestimmte Fragen diskutiert, muß man aber über das hinausschauen. Denn was morgen Praxis ist, wird nicht unwesentlich davon bestimmt, was technisch möglich ist. Ob bestimmte Filtermaßnahmen sinnvoll sind, hängt doch auch von der Reaktion ab, die sie hervorrufen würden, wenn man sie implementiert. Wenn es technisch trivial ist, sie zu umgehen, dann wird genau das morgen soziale Praxis sein. [...] > Um das mit der Individualisierung mal auf die Spitze zu treiben: Es wäre > doch theoretisch durchaus denkbar, dass uns etwa Herr Wickert abends > persönlich zu den Tagesthemen begrüßt - "Guten Abend Herr Goltzsch, hier > ihr persönlicher Nachrichtenüberblick." Womöglich wäre er aber auch schon > ein alter Mann, bis er all die individualisierten Anreden in die Kamera > gesprochen hat. Und zudem wäre es langweilig, wenn wir jeden Abend die > selbe aufgezeichnete Anrede über uns ergehen lassen müßten. Wenn schon, > dann möchte man das jeden Abend leicht variiert: "Hallo Herr Goltzsch, na, > wie geht's Ihnen? Sie sehen aber heut' aber etwas blass um die Nase aus. > Vielleicht muntern sie die Nachrichten ja etwas auf. - Afghanistan ..." > Also: Zuviel Individualisierung das hätte eindeutig den Nachteil, dass man > sich jeden Abend für Herrn Wickert schick machen, die Füße vom Tisch und > den Finger aus der Nase nehmen muss, wenn er mit dem Televisor > hereinschaut. Herr Wickert ist das falsche Modell. Indiviualisierung heißt nicht nur Individualisierung für den Konsumenten, sondern auch Individualisierung des Produzenten. Mailing-Listen und das Usenet haben teilweise sehr viele Informationen zu bieten, und niemand, der sich mit irgendetwas wirklich auskennt, informiert sich auf diesem Gebiet aus Massenmedien. Und ob die heutigen Massenmedien für jemanden, der sich nur allgemein und oberflächlich informieren möchte, wirklich die optimale Informationsquelle darstellt, kann man doch durchaus bezweifeln. Ich kann nur jedem raten, der etwas über Technologie und Naturwissenschaften wissen will (und wenn es auch nur oberflächlich sein soll), kein Wort aus den klassischen Massenmedien zu glauben. Auf anderen Gebieten wird es nicht anders sein. [...] > > P2P dient mir > > z.B. auch dazu, aktuelle Empfehlungen zu überprüfen. (Die > > Senderlandschaft von Rundfunk & Fernsehen erhebt das zur > > puren Notwendigkeit.) > > Wenn es wirklich nur darum ginge, den Konsumenten etwas mehr > Bequemlichkeit zu verschaffen - dadurch, dass diese die Musik schon mal > anhören können, wozu sie bisher in den Laden rennen mussten, um sie dann > bei Gefallen später zu kaufen - wieso sollte sich die Musikindustrie dem > verweigern? Ich glaube aber, dass die Musiktauschbörsen in dem was sie > bewirken, deutlich darüber hinausgehen, bzw. die Leute ganz schön lange > brauchen, "aktuelle Empfehlungen zu prüfen" und darüber das Zahlen ganz > vergessen; es gibt da offenbar reale Umsatzeinbrüche. - Sonst würde die > Musikindustrie nicht so schreien. Legitime Interessen? Eine rethorische Frage, die gar nicht mal so rhetorisch ist. Aber eigentlich ist die Frage, ob die Interessen der P2P-Tauscher legitim sind (oder besser die Methoden, denn Geld Sparen ist auf jeden Fall ein legitimes Interesse), garnicht so interessant, wie die Frage, ob die Interessen "der Musikindustrie" so wichtig sind, daß sie einschneidende Maßnahmen rechtfertigen würden. Mich würde es jedenfalls kaum stören, wenn die ganze Kommerz-Scheiße verschwinden würde. Und ob die Leute, die damit primär Geld verdienen, dieses auch verdient haben, könnte man auch diskutieren. Wir haben eine Marktwirtschaft, es ist also durchaus legitim mit jedem Dreck Geld zu verdienen, wenn es nur jemand haben will. Aber hat man ein so starkes Recht darauf, daß solche Eingriffe in die Individualkommunikation rechtfertigen, wie sie von manchen gefordert werden? > > Du kannst diesen Standpunkt ja gerne vertreten. Du solltest > > dann aber auch einen gangbaren Weg weisen. Wenn Du der > > Meinung bist, dass P2P-Dienste Öffentlichkeit herstellen und > > Urheberrechte verletzen, musst Du eine Handhabe vorweisen, > > dem Gesetz Geltung zu verschaffen. > > Wie die genaue Rechtslage aussieht weiß ich nicht. Ich nehme nur den > Aufschrei von Seiten der Verwerter/Urheber wahr und versuche die > Legitimität der entgegenstehenden Interessen abzuschätzen. Interessen abschätzen. Das ist der Punkt. Mir leuchtet zum Beispiel überhaupt nicht ein, warum jemand wie Bill Gates - um ihn mal als Symbol herausgreifen - der realistisch betrachtet wie kaum ein anderern einen gigantischen ökonomischen Schaden angerichtet hat, so reicht werden konnte. Da funktioniert Martkwirtschaft doch offensichtlich nicht mehr wie geplant (pun not intended). Betrachtet man den ganzen Komplex, der mit geistigem Eigentum zusammenhängt, dann läuft da doch einiges schief. > Die Diskussion > sollte dabei meines Erachtens auf der Ebene von Rechten der Beteiligten > geführt werden, nicht auf der Ebene von technischen Sachzwängen, die den > Charakter von Totmannschaltungen haben: "Ätschibätsch - keiner mehr > verantwortlich". Das führt über kurz oder lang zu einem kybernetischen > Wettrüsten und auch zu Überreaktionen (vgl. PGP-Verbot bzw. > Entschlüsselungszwang in Frankreich). Kybernetische Wettrüsten wird es nicht geben: Wer gewinnt ist klar. Aber bei dem vergeblichen Versuch hier alte Stukturen zu erhalten, wird man man möglicherweise viel Schaden anrichten und die Chanche versäumen, frühzeitig neue Stukturen zu schaffen, die vielleicht zukunftskompatibel sind. Und während gewisse Rechte einem Individuum in einem Rechsstaat und in einer Demokratie unbedingt zugestanden werden müssen, so sind die Rechte, um die es hier geht, doch sicher nicht von dieser Art. Welche Rechte jemand haben soll, mit den paar Bytes, die er produziert hat, Geld zu verdienen, das hängt doch von vielen Wertungsfragen ab. Und darüber sollte man mal diskutieren, statt sie als Naturrecht darzustellen, und damit alles mögliche zu rechtfertigen. Gruss, Martin