http://www.npla.de/de/poonal/3676-duerre-und-katastrophenindustrie

Dieser Artikel ist erschienen in Poonal Nr. 978 [1]  

Dürre und Katastrophenindustrie 

Sonntag, den 08. Januar 2012    

von Luis Hernández Navarro

(Mexiko-Stadt, 03. Januar 2012, la jornada).- Das Jahr 2011 ist für die
mexikanische Landwirtschaft eine Katastrophe gewesen. Frost,
Überschwemmungen und Dürren haben Äcker und Viehweiden gegeißelt. Im
vergangenen Februar schädigte die Kälte die Maispflanzungen im Bundesstaat
Sinaloa [2], dem wichtigstem Maisanbaugebiet Mexikos. Im Juni kamen die
Regenfälle später und so verzögerte sich die Aussaat. Es folgten Nachtfröste
mitten im Sommer in den Bundesstaaten Veracruz und Puebla. Das Jahr endete
mit der schlimmsten Dürre in sieben Jahrzehnten in mehr als der Hälfte des
Landes.

Gefahr von Hungersnöten

Die Auswirkungen dieses unsteten Klimas auf die land- und
viehwirtschaftliche Produktion in Mexiko sind äußerst schädlich gewesen. Die
Maisernte brach ein. Erwartet wurde eine Produktion von 23 Millionen Tonnen.
Mit Glück werden am Ende 19,5 Millionen Tonnen zusammenkommen. Es wird nicht
einfach sein, die fehlende Menge auf dem internationalen Markt zu erhalten
und der Kaufpreis wird sehr hoch sein: Die USA verringerten ihre Produktion,
die internationalen Preise haben angezogen und die Spekulationswelle im
Nahrungsmittelbereich ist weltweit ungebremst.

Das Ergebnis dieser Situation ist schlichtweg desaströs. Trotz der
Exporterlöse bei Bier und Tequila wies die land- und viehwirtschaftliche
Handelsbilanz bis Oktober 2011 ein Defizit von über 2,2 Milliarden US-Dollar
auf. Allein für den Maisimport wurden 2,35 Milliarden US-Dollar ausgegeben.
Das sind fast 50 Prozent mehr als im Vorjahr.

Es besteht die reelle Gefahr, dass mehrere Regionen Hungersnöte erleben
werden. Die Lage der Bauern und Bäuerinnen sieht nicht gut aus und sie wird
sich noch verschlechtern. Die Bauern und Bäuerinnen werden die Folgen der
Ernteverluste und der niedrigeren Erträge zu spüren bekommen, ohne auf eine
Ausfallversicherung zählen zu können, die ihnen die Verluste ersetzt.

Verfehlte Landwirtschaftspolitik

Für die Klimakatastrophe sind die RegierungsfunktionärInnen nicht
verantwortlich zu machen, wohl aber für fehlende politische Maßnahmen [3],
ihr zur begegnen. Die Dürren sind hierfür ein Beispiel. Sie sind nichts
Neues. Ein bedeutender Teil unserer Anbaupflanzen wird auf Böden ausgesät,
die dafür nicht geeignet sind. Wir leben in einer Halbwüste, aber eine
Landwirtschaftspolitik, die darauf reagiert, existiert nicht. Es gibt weder
vernünftige Vorschläge für Anpassungen der Produktion noch nachhaltige
Maßnahmen, um die Flächen des Bewässerungsbaus zu vergrößern, noch
ausreichende Mittel für Entschädigungen, um Widrigkeiten zu begegnen.

Gerade wegen der klimatischen Faktoren ist die Landwirtschaft eine
Aktivität, die sich von anderen unterscheidet. Sie braucht staatliche
Schutz- und Ausgleichsmaßnahmen, damit Stabilität und Sicherheit garantiert
sind. Aber statt auf solche zu setzen haben sich die neoliberalen
Regierungen darauf verlegt, die bestehenden Schutz- und
Kompensationsmechanismen irrationalerweise abzuschaffen.

Das Land und seine Bauern und Bäuerinnen zahlen jetzt für die Folgen einer
Politik, die die Landwirtschaft, die Kleinbauern und -bäuerinnen sowie die
Ernährungssouveränität geopfert hat, um makro-ökonomische Variablen stabil
zu halten und das Entwicklungsmodell auf angebliche komparative
Kostenvorteile zu stützen. Es stimmt, für die Dürren ist die Natur
verantwortlich. Aber ihre Folgen für die Bauern und Bäuerinnen und die
fehlenden Abfederungsmechanismen sind das Ergebnis einer durchdachten
Politik, die Staatspräsenz im primären Sektor abzuschaffen beziehungsweise
umzuorientieren.

Zukauf auf dem Weltmarkt wird immer teurer

Das Land muss nicht nur die Auswirkungen der Fröste, Überschwemmungen und
Dürren ertragen, sondern hohe Preise auf dem Weltmarkt zahlen. Der
internationale Nahrungsmittelindex hat historische Höchststände erreicht.
Laut der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) stiegen die
Preise für Lebensmittel im Jahr 2010 um 39 Prozent, die für Getreide um 71
Prozent. Doch die mexikanische Regierung weigert sich, eine Bestandsaufnahme
vorzunehmen und die einheimische Nahrungsmittelproduktion zu schützen.

Im Gegenteil: In ihrem Bestreben, den Agrarsektor einzig und allein den
Marktmechanismen zu unterwerfen, öffneten die TechnokratInnen die Grenzen.
Dabei „vergaßen“ sie, dass die internationalen Märkte gar keine sich selbst
regulierenden Instanzen sind, die sich nach abstrakten Gesetzen von Angebot
und Nachfrage richten. Es handelt sich vielmehr um Einrichtungen, die unter
aktiver Mitwirkung der mächtiger Staaten und der Großkapitale der
Agroindustrie entstanden sind.

Die von den vergangenen Regierungen angewandte Agrarpolitik hat jene
Institutionen und Programme zerstört, die versuchten, den LandwirtInnen
Sicherheit zu geben. Sie ersetzten sie durch eine ungezügelte Öffnung des
Handels sowie durch ein Klientelwesen, in dessen Kontext die Mittelvergabe
an politische Unterstützung geknüpft wird.

Klientelismus und Katastrophenindustrie

Im Umfeld der Naturkatastrophen hat sich eine blühende Industrie entwickelt:
die Katastrophenindustrie. BundesfunktionärInnen, GouverneurInnen und
BauernführerInnen nutzen die Tragödie als Gelegenheit, sich einer
politischen Klientel zu versichern oder die Loyalität ihrer bereits
existierenden Klientel zu erhöhen. Die traditionellen Empfängerlisten der
Sozialprogramme, die sich als so nützlich für den Wahlkampf erwiesen haben,
werden nun um neue Listen von Geschädigten erweitert. Um irgendeine
Entschädigung zu erhalten, müssen die betroffenen Kleinbauern und
–bäuerinnen oder deren Familien in der einen oder anderen Form „ihren
Zehnten“ an jene FunktionärInnen entrichten, die die Mittel verwalten.

Seit inzwischen fast vier Jahrzehnten ist der mexikanische Landbau auf sich
allein gestellt und ein Desaster. Auch wenn derzeit versucht wird, der Dürre
die Schuld für die Produktionsprobleme zu geben, so verhält sich die
Situation genau umgekehrt: Die Dürre hat nichts anderes getan als die
enormen Mängel unserer Agrarpolitik offenzulegen.

(Der Originalartikel erschien am 3. Januar 2012 in der mexikanischen
Tageszeitung "La Jornada“ [4])

Übersetzung: "Entre Campos & Entre Pueblos – Zwischen Land und Leuten“

[1] http://www.npla.de/poonal/archiv/3668-poonal-nr-978
[2] http://www.npla.de/poonal/3620
[3] http://www.npla.de/poonal/3552
[4] http://www.jornada.unam.mx/2012/01/03/opinion/013a2pol




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