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Klimaretter.info - 23.01.2012

"Jetzt muss gepfiffen werden"

Die Biokraftstoffbranche trifft sich zu ihrer Jahrestagung in Berlin - und 
formuliert scharfe Kritik an der Bundesregierung und der EU. Die Diskussion 
über eine Einbeziehung der sogenannten indirekten Landnutzungsänderung bei der 
Treibhausgasbilanz gefährde die Ziele für erneuerbare Mobilität.

Aus Berlin Eva Mahnke

An der Leinwand hinter Helmut Lamp im Vortragssaal 3 im Kongress-Center ICC 
schürzt Angela Merkel die Lippen. Der Vorsitzende des Bundesverbandes 
Bioenergie (BBE) [1] hat eine klare Botschaft für die Kanzlerin: "Es reicht 
nicht mehr, die Lippen zu spitzen. Jetzt muss gepfiffen werden." Bereits zum 
neunten Mal tagt heute und morgen in Berlin der Interationale Fachkongress für 
Biokraftstoffe [2]. Organisiert wird er von den Branchenverbänden BBE und der 
Union zur Förderung von Oel- und Proteinpflanzen (UFOP) [3]. Mehr als 500 
Teilnehmern aus 26 Ländern nehmen in diesem Jahr teil. Der fachliche Austausch 
zu Marktentwicklung und Perspektiven von Agrodiesel, Ethanol, Pflanzenöl und 
Methan findet allerdings schwerpunktmäßig erst am zweiten Kongresstag statt, 
der erste dient vor allem dazu, politischen Druck aufzubauen.

"Deutschland hat die Energiewende ausgerufen", sagt Lamp zum 
Veranstaltungsauftakt für die Ohren der Regierung. "Der Treibstoffbereich ist 
aber bisher davon völlig unberührt. Aus meiner Sicht handelt es sich derzeit 
nur um eine Stromwende." Die Branche ist wütend. Schon mehr als die Hälfte der 
Legislaturperiode ist vergangen und noch immer ist für die Agrokraftstoffe aus 
ihrer Sicht nicht viel getan worden. "Warum", fragt Lamp, "wird die deutsche 
Vorreiterrolle in der nachhaltigen Biokraftstoffproduktion von der Politik 
nicht honoriert?" Momentan beträgt deren Anteil am deutschen 
Kraftstoffverbrauch rund fünf Prozent. Bis 2020, so schreibt es eine 
EU-Richtlinie vor, muss er bei mindestens zehn Prozent liegen. Die jetztige 
Politik trage eher dazu bei, dass der Anteil wieder abnehme, als dass er 
steige, so Lamp. Daran, dass sich dieser Anteil erhöhen ließe, lässt der 
BBE-Chef keinen Zweifel. Allerdings bedürfe es hierzu auch des entsprechenden 
politischen Willens.

Was die Branche derzeit vor allem in Aufruhr versetzt, ist die Debatte um die 
sogenannten indirekten Landnutzungsänderungen [4] - im Fachjargon ILUC (für 
Indirect Land Use Change). "Es wurden uns in der Vergangenheit viele Hürden in 
den Weg gelegt", sagt BBE-Chef Helmut Lamp. "Eine besonders große Hürde aber 
sind die indirekten Landnutzungsänderungen." Gemeint ist die Umwandlung von 
bisher landwirtschaftlich ungenutztem Land wie Weiden, Brachland und 
Waldflächen in Ackerboden. Weil bei der Landumnutzung in Boden und Biomasse 
gespeichertes Kohlendioxid frei wird, sieht es für die Klimabilanz der 
Agrotreibstoffe desto schlechter aus, je stärker die Landnutzungsänderungen 
eine Rolle spielen. Schon jetzt schreibt eine EU-Richtlinie die Zertifizierung 
der Treibstoffe vor, womit etwa die direkte Rodung von Urwald für die 
Errichtung von Palmölplantagen verhindert werden soll. Bisland finden die 
indirekten Landnutzungsänderungen bei den von der EU anerkannten 
Zertifizierungssystemen [5] keine Berücksichtigung.

Die indirekten Landnutzungsänderungen sind das Hauptthema das Kongresses

"Die ILUC geistern auf den Fluren der EU-Kommission umher", sagt 
UFOP-Vorsitzender Klaus Kliem und meint damit möglicherweise anstehende 
Gesetzesänderungen, die seiner Branche verschärfte Umweltauflagen bescheren 
könnte. Denn ausgehend von den Forschungsergebnissen einer Studie des 
Washingtoner International Food Policy Research Institute [6] (IFPRI) will die 
Kommission den treibhausgasrelevanten Einfluss der indirekten 
Landnutzungsänderungen nachträglich doch noch berücksichtigen. Dies wurde in 
der Vergangenheit nicht nur von Umweltverbänden immer wieder gefordert. Auch 
das Wissenschaftskomitee der Europäischen Umweltagentur hatte im vergangenen 
Herbst angemahnt [7], dass die Berechnungsgrundlage der EU zu den ökologischen 
Auswirkungen der Biomasseproduktion fehlerhaft seien. Zuletzt hatten über 
einhundert Wissenschaftler die Europäische Kommission aufgefordert4, die 
wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu den Landnutzungsveränderungen 
endlich zu berücksichtigen. Der unterstellte Klimanutzen der Agrotreibstoffe 
sei viel geringer als sie es bislang unterstelle.

Die Kommission hat darauf reagiert und schlägt nun vor, auf die 
Treibhausgasbilanz der Agrokraftstoff einen Treibhausgaszuschlag aufzuschlagen. 
Das könnte die Zertifizierung einiger Kraftstoffe gefährden, denn die EU 
schreibt vor, dass Agrokraftstoffe insgesamt mindestens 35 Prozent weniger 
Treibhausgase verursachen dürfen als fossile Kraftstoffe. 2017 wird sich dieser 
Wert auf 50 Prozent erhöhen. Für Kliem ist klar: "Dies wäre das Ende von 
Biodiesel in der EU. Wir lehnen deshalb die Einführung von ILUC-Faktoren ab." 
Ohne Biodiesel aber, so warnen die Verbände, seien die europäischen 
Erneuerbaren-Ziele für den Verkehrssektor nicht mehr zu halten.

UFOP und BBE sehen den Einfluss der indirekten Landnutzungsänderungen nicht als 
erwiesen an. Die EU-Kommission, so ihre Argumentation, stütze ihre Politik nun 
auf eine Studie, die auf vielen umstrittenen Annahmen - wie etwa zu gering 
bemessene Anbauflächen - beruhe. Zudem bliebe ein europäischer Alleingang ohne 
jede Wirkung auf Klima und Umwelt, denn die großen Märkte in Asien und 
Südamerika würden einfach weitermachen wie bisher. Die Verbände befürchten, 
dass die Europäer in Zukunft gegenüber außereuropäischen Märkten benachteiligt 
sein könnten und fordern deshalb zunächst bilaterale Verhandlungen mit den 
großen Biomasseproduzenten Brasilien, Argentinien, Malaysia und Indonesien zur 
Einhaltung von Umweltstandards aufzunehmen.

Die unklare Zukunft zur Rolle der indirekten Landnutzungsänderungen, die 
unklare Verlängerung der Steuerbefreiung für einige Agrokraftstoffe, eine 
verglichen mit der fossilen Industrie äußerst bescheidene Unterstützung mit 
Forschungsgeldern - die Klageliste der Branche ist lang. "Wir werden auf Ihre 
Kritik eingehen", verspricht jedoch Clemens Neumann, Ministerialdirektor im 
Landwirtschaftsministerium und Abteilungsleiter Biobasierte Wirtschaft und 
Nachhaltige Land- und Forstwirtschaft, und signalisiert, dass die Politik - 
trotz der in der Öffentlichkeit nicht erst seit Einführung des E10-Treibstoffs 
stark kritisierten Branche - deren zukünftiges Gewicht durchaus zu schätzen 
wisse. "Der Verbrennungsmotor wird in den nächsten Dekaden der Standard sein", 
so Neumann. "Biokraftstoffe werden deshalb zunehmend wichtig." Das bestätigt 
selbst der fossile Gigant Shell, der in Person von Shell-Chefvolkswirt Jörg 
Adolf auf dem Erneuerbaren-Kongress vertreten ist. "Biomasse ist auch für uns 
zunehmend interessant, weil - bis auf Öl - kaum ein Energieträger flüssigen 
Treibstoff bereitstellen kann." Der Konzern begrenze deshalb sein Engagement 
nicht länger nur auf den Erwerb und Vertrieb von Agrotreibstoffen, sondern 
haben etwa mit dem Joint Venture Cosan eigene Produktionskapazitäten von zwei 
Milliarden Litern Bioethanol aufgebaut.

Für den Kraftstoffmarkt der Zukunft, so die Botschaft aller Redner, seien die 
Agrokraftstoffe auf jeden Fall nicht mehr wegzudenken. Ein Blick auf die 
Teilnehmerliste - Lufthansa, Mercedes und Volkswagen haben Vertreter entsandt - 
bestätigt diesen Eindruck. "Es ist im Moment nicht ganz klar, wo es hingeht", 
benennt Ulrich Eichhorn, Geschäftsführer des Verbandes der Automobilindustrie 
(VDA), allerdings die Situation der Agrokraftstoffe. Derzeit gebe es viele 
Alternativen, von denen wahrscheinlich viele auch in Zukunft nebeneinander her 
bestehen werden. Wie sich die Anteile aufteilen, ist noch unklar.. Man sehe es 
aber als Pflicht an, die besten Alternativen zu verfolgen und entsprechende 
Technologien zu entwickeln. Auch Eichhorn fordert deshalb Planungssicherheit 
für seine Branche. Kraftstoff und Mobilitätssystem müssten zusammen entwickelt 
werden, denn erst wenn der Kraftstoff feststehe könnten auch die entsprechenden 
Motoren entwickelt werden.

Eichhorn sieht allerdings nicht nur die Politik am Zuge. Oft reichten rationale 
Argumente nicht aus, um die Verbraucher von ihrem neuen Glück zu überzeugen. 
"Wir müssen auch dafür sorgen, dass Biokraftstoffe cool und sexy werden", so 
der VDA-Chef. Hierfür muss jedoch erst einmal die Debatte um die 
Landnutzungsänderungen ausgefochten werden.

Im Text verwendete Links:

1. http://www.bioenergie.de/
2. http://event.bioenergie.de/
3. http://www.ufop.de/
4. http://www.klimaretter.info/energie/hintergrund/9629
5. http://www.klimaretter.info/umwelt/hintergrund/9029
6. http://www.ifpri.org/
7. http://www.klimaretter.info/mobilitaet/nachricht/9423

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