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* 10.02.2012

Japanische Dokumentarfilme auf Berlinale

Fukushima, mon amour

Drei Filme aus Japan zeigen, wie die Gesellschaft auf die Katastrophe in
Fukushima reagiert: mit Trauer und Resignation, weniger mit Wut.

von Stefan Reinecke

Ein bedächtiger Panoramaschwenk zeigt eine Küste, die zu einer
Mülllandschaft geworden ist. Man soll die Trümmerberge, die der Tsunami am
11. März 2011 hinterlassen hat, genau anschauen können. Dann sieht man
blühende Kirschbäume. Ein Bild wie ein Stilleben. Man hört Vogelgezwitscher,
die Inszenierung lässt viel Zeit, um Bild und Töne wirken zu lassen. Und zu
verstehen, was fehlt: Menschen. Es ist Frühling, aber niemand wird diesen
Frühling in der geräumten 20-Kilometer Zone um Fukushima erleben.

Mit diesem Kontrast von Katastrophe und scheinbarem Idyll beginnt der
Essayfilm "No Man's Zone", eine kluge Reflexion über Bilder von sichtbaren
und unsichtbarem Unglück. Lange sieht man verlassenen Landschaften und leere
Straßen, mal eine Kuhherde neben einem Strommast. Dazu sind im Off
Geschichten von Evakuierten zu hören. Stimmen ohne Körper, wie von Geistern,
dazu Bilder von Geisterstädten. Mit dem Fallout ist etwas auseinander
gefallen.

Die Bilder zeigen die Gefahr nicht mehr. Darauf antwortet Fujiwara mit
Montagen und mit einem reflektierenden Off-Kommentar. "No Man's
Zone"erinnert an Chris Markers Essayfilme, ohne deren intellektuelle
Prägnanz zu erreichen.

Wer ist schuld?

Der erste Mann, der nach dieser langen Ouvertüre im Bild erscheint, hat
früher in dem Atomkraftwerk gearbeitet. Nur deshalb hatte er Arbeit, nur
deshalb konnte er heiraten. Alle waren glücklich, weil es das Atomkraftwerk
gab, sagt der Mann. Man ahnt, dass Japans Aufstieg aus den Trümmern von 1945
zur Industrienation eng mit der Atomkraft verklammert war, viel stärker als
in den USA, Frankreich oder Deutschland.

Im Off-Kommentar heißt es später: "Wir suchen Verantwortliche für das
Desaster. Aber es gibt keinen Feind, keine Terrorist, den man verantwortlich
machen kann. Wer ist Schuld, die Regierung, die Elektrizitätsgesellschaft,
die Wissenschaftler? Wir brauchen einen Schuldigen, wir wollen auf der
richtigen Seite stehen". Das ist eine reflexive, selbstkritische Lesart der
Katastrophe, aber auch eine typisch japanische Sichtweise. Schuld spielt
eine viel kleinere Rolle als in westlichen Kulturen.

Merkwürdiger Zwitter

"Friends after 3.11" ist ästhetisch das Gegenteil von "No Man's Zone": keine
Komposition, sondern ein holprig improvisierter Interviewfilm. Shunji Iwai
befragt Wissenschaftler, Schauspieler, Journalisten, Regisseure, Banker,
Ingenieure, Freunde und Internetbekannte, was der 11. März bedeutet. Das
klingt beliebig, und abgesehen davon, das alle Atomkraftgegner sind, ist es
das auch. Ein Professor hält den Klimawandel für eine Erfindung und daher
Kohle- statt Atomkraftwerke für eine prima Idee. Ein Ingenieur, der
Atomkraftwerke baute, weiß, dass es verheimlichte Fast-Unfälle gab.

"Friends after 3.11" ist ein merkwürdiger Zwitter, nicht subjektiv genug für
ein Tagebuch, zu wenig journalistisch für eine Reportage, zu unbeholfen für
einen Dokumentarfilm. Mag sein, dass sich noch in dieser Formlosigkeit das
Erschrecken spiegelt.

Auffällig ist, dass es kaum Bilder der Wut, der Hysterie, des Aufbegehrens
gibt. In "No Man's Zone" ertragen die Bauern die Zerstörung ihrer Existenz
fast stoisch. Auch in "Friends after 3.11", einer Art visuellem Flugblatt,
ist das Affektniveau seltsam niedrig.

Zerfallende Illusion

Gesten des Schmerzes, auch zaghaften Aufbegehrens zeigt "Nuclear Nation",
die dichteste Dokumentation der Katastrophe. Funahashi Atsushi folgt von
Frühling bis Winter (im Zeit-Rhythmus der Bauern, die die Region Fukushima
prägen) dem Schicksal von Futaba. Die Kleinstadt ist vom Fallout kontamiert.
Mehr als Tausend Bewohner hausen nun in einer Schule bei Tokio. Der Tenno
besucht die Exilierten zwecks Tröstung. Eine Militärkapelle rückt an und
spielt das Lied "Wir lieben Fukushima". In der Turnhalle treten
drittklassige Wrestler zwecks Bespaßung der Heimatlosen auf, trostloser hat
man Wrestling nie gesehen. Die Hoffnung, in die vom Tsunami verwüstete und
von Strahlung vergiftete Heimat zurückzukehren, schwindet mit jedem Tag.

"Nuclear Nation" zeigt in ruhigen, genau kadrierten Bildern, wie eine
Illusion zerfällt - der Traum von der sicheren Atomkraft, die Futuba und
Japan reich gemacht hat. Held dieser Tragödie ist der Bürgermeister, ein
bedächtiger Herr mit randloser Brille. Er ist ein Bürgermeister ohne Stadt -
und am Ende, als sich die Schule leert und die Vertriebenen sich andernorts
ansiedeln, auch ohne Bürger. Einst war er Atomkraft-Fan, nun ist er ein
bitterer Gegner.

Einmal dürfen die Exilierten für zwei Stunden zurück nach Futaba. In weißen
Schutzanzügen geistern sie durch die verwüstete Stadt, um Habseligkeiten zu
suchen. Ratlos stöbern sie in den Ruinen ihres Leben, gehetzt legen sie
Blumen für in Fluten getötete Angehörige nieder.

Man sieht einen Torbogen, dahinter die endlose Mülllandschaft. "Die
Atomenergie garantiert den Wohlstand unserer Gesellschaft", ist in großen,
verwitterten Lettern darauf zu lesen. Ein Satz wie eine sozialistische
Parole nach 1989, ein falsches, böses Versprechen.




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