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Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 27-28/2012): Wohlstand ohne Wachstum?
[*]

Wachstum und Herrschaft - Essay

Ulrich Brand

27.6.2012

Die Frage, welches Wachstum und welchen Wohlstand wir wollen, wird derzeit
intensiv diskutiert. Das hängt mit der aktuellen Wirtschaftskrise und einer
Intensivierung der Diskussion um die ökologische Krise zusammen.[1] Im
Folgenden umreiße ich die Motive der sich entwickelnden starken
Wachstumskritik. Darunter fasse ich jene Vorschläge, die aus
unterschiedlichen Gründen gegen ökonomisches Wachstum plädieren.[2] Ein
umfassender Begriff der Wachstumskritik sollte nicht nur starke Positionen
gegen Wirtschaftswachstum einbeziehen, sondern auch jene Ansätze, die für
ein anderes Wirtschaftswachstum argumentieren.[3] Beispielsweise findet
innerhalb der Gewerkschaften und in den keynesianischen
Wirtschaftswissenschaften der Begriff des "qualitativen" Wachstums
Verwendung.[4] Der Verzicht auf Wachstum ("Wachstumsskeptizismus") wird hier
mitunter als fortschrittsfeindlich kritisiert, als Idee von
Postmaterialisten, die es sich leisten können, und als nicht erstrebenswerte
"Askese".[5] Ökologisch orientierte Vorschläge für ein anderes Wachstum
firmieren unter Green New Deal oder Grüne Ökonomie.[6] Weitere Beiträge
setzen sich kritisch mit der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise
auseinander.[7] Die Motive und Argumente einer grundlegenden, das heißt
starken Kritik am Wirtschaftswachstum als geeignete wirtschaftspolitische
Bezugsgröße sowie als Indikator für Wohlstand und Lebensqualität sind
vielfältig.[8]

Die bedeutendste Wachstumskritik ist der seit etwa 40 Jahren bestehende
Diskussionsstrang der ökologischen Grenzen des Wachstums. Ausgehend von der
Studie "Grenzen des Wachstums" des Club of Rome aus dem Jahre 1972
entwickelte sich eine intensive wissenschaftliche und
gesellschaftspolitische Debatte. Die zentrale Annahme lautet, dass es eine
Knappheit von Ressourcen sowie der Möglichkeiten der Energieumwandlung gibt.
Diese Diskussion wird seit den 1990er Jahren ergänzt durch die Grenzen der
Aufnahmefähigkeit etwa von Wäldern und Ozeanen ("Senken") sowie der
Atmosphäre und Stratosphäre für Emissionen oder Immissionen (CO2,
Chemikalien, Abfälle aller Art). Seit den 2000er Jahren wird die Zerstörung
zusammenhängender Ökosysteme in der Diskussion wichtiger.[9]

Hier setzt die ökologisch ausgerichtete Post-Wachstumsdebatte an. Viel
diskutiert ist etwa das Buch "Wohlstand ohne Wachstum" von Tim Jackson,[10]
in dem er fragt, wie in einer Welt mit weiterhin hohem Bevölkerungswachstum
und begrenzten Ressourcen Wohlstand beschaffen sein soll und kann, ein
"Wohlstand, der es den Menschen ermöglicht, ein gutes Leben zu führen, mehr
Zusammenhalt in der Gesellschaft zu schaffen, mehr Wohlbefinden zu erfahren
und trotzdem die materiellen Umweltbelastungen zu reduzieren".[11] Dabei
vertraut er weder auf wirtschaftliches Wachstum noch auf technologische
Lösungen. Ein nachhaltiges Wirtschaftssystem bedürfe politischer
Rahmenbedingungen (wie etwa einer ökologischen Steuerreform und Obergrenzen
für den Verbrauch von Ressourcen und den Ausstoß von Emissionen),
kultureller Veränderungen (wie etwa des Abbaus von Konsumismus), einer
Verkürzung der Lohnarbeitszeit, des Abbaus von Ungleichheit, der Stärkung
der Fähigkeiten und des Sozialkapitals der Menschen sowie der Unterstützung
der südlichen Länder beim Umbau ihrer Ökonomien.[12]

Einen zweiten Strang bildet die Glücksforschung, welche die These vertritt,
dass ab einem bestimmten Punkt die Höhe des Einkommens kaum mehr mit
wachsender Lebenszufriedenheit korreliert: "Wirtschaftswachstum war für
lange Zeit Motor des Fortschritts, doch in den reichen Ländern ist dieser
Antrieb inzwischen weitgehend erschöpft. Das ökonomische Wachstum ist nicht
mehr wie einst von Maßnahmen für das Wohlergehen und Wohlbefinden der Bürger
begleitet. Schlimmer noch: So haben Ängste, Depressionen und andere soziale
Probleme mit wachsendem Wohlstand zugenommen."[13] Mehr Gleichheit schafft
bessere soziale Beziehungen, so wie umgekehrt gesundheitliche und soziale
Probleme in Ländern mit großen Einkommensdifferenzen signifikant stärker
sind.[14]

Wirtschaftswachstum ab einer bestimmten Einkommenshöhe verschärft
demgegenüber soziale Probleme, da in Gesellschaften mit weitgehend
gesicherten Grundbedürfnissen Druck, Konkurrenz und Konsumismus zunehmen.
Entsprechend benötigen die Menschen einen anderen Blick auf ihre eigenen
Gesellschaften, um überhaupt ein breiteres Verständnis von Lebensqualität zu
erhalten.[15]

Ein dritter Strang nimmt Motive der ökologischen Kritik und der
Glücksforschung auf und übersetzt sie in eine radikale Diagnose sowie eine
attraktive Botschaft.[16] Die Diagnose lautet, dass die Menschen in den
westlichen Gesellschaften über ihre Verhältnisse leben hinsichtlich der
eigenen Leistungsfähigkeit und der lokal und regional vorhandenen
Ressourcen. Zudem geht das Wirtschaftssystem einher mit Investitionen,
entsprechenden Krediten und zu bedienenden Zinsen. Deshalb muss die
Wirtschaft wachsen.[17] Die Botschaft ist: Die notwendige Reduktion des
Ressourcenverbrauchs und der Nutzung der Senken durch weniger und andere
industrielle Produktion kann mit einer stabileren Versorgung und mehr Glück
im Sinne von subjektivem Wohlbefinden einhergehen. Das bedarf kultureller
Veränderungen, insbesondere einer "kreativen Subsistenz" durch
Eigenproduktion, Gemeinschaftsnutzung und einer längeren Nutzungsdauer von
Gebrauchsgütern.[18] Auf der Seite der Unternehmen kann der Wachstumszwang
gemildert werden, indem lokal und regional produziert wird. Kürzere und
entflochtene Produktionsketten fördern Nähe und Vertrauen, was "per se eine
weniger zins- und renditeträchtige Kapitalbeschaffung ermöglicht".[19] Hinzu
kommen etwa die Reduktion und Umverteilung der Arbeitszeit und entsprechend
dem veränderten Konsumverhalten langlebige Konsumgüter.

Konsens in der "starken" wachstumskritischen Diskussion ist, dass es
gesellschaftlicher Veränderungen bedarf, um vielfältige soziale und
ökologische Probleme zu bearbeiten. Die Orientierung an wirtschaftlichem
Wachstum ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Wohlstand ohne Wachstum
ist vorstellbar, umsetzbar und unabdingbar. Die unterschiedlichen Beiträge
stellen zudem eine Kritik an der herrschenden Meinung innerhalb der
Wirtschaftswissenschaften dar, da sie den nutzenmaximierenden und
ausschließlich auf die Güterwelt ausgerichteten homo oeconomicus sowie die
Zentralität des Wirtschaftswachstums hinterfragen.[20]

Allerdings läuft die wachstumskritische Debatte Gefahr, zentrale Momente
wirtschaftlichen, das heißt kapitalistischen Wachstums zu unterschätzen,
nämlich ihren herrschaftlichen Gehalt. Wirtschaftswachstum reproduziert
nämlich gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Lebenschancen und
Handlungsspielräume, Vermögen und Einkommen höchst unterschiedlich verteilt
sind. Es sichert gesellschaftlichen Ein- und Ausschluss, Klassen- und
Eigentumsverhältnisse, die asymmetrische Beziehung zwischen Männern und
Frauen, zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten sowie internationale
Ungleichheiten. Dies soll im Folgenden anhand zentraler Argumente
feministischer und marxistischer Wachstumskritik ausgeführt werden. Es
bedarf dazu auch einer Präzisierung, was unter kapitalistischem Wachstum
verstanden wird.[21] Mein Vorschlag lautet, dass die wachstumskritische
Debatte insgesamt fruchtbarer geführt werden kann, wenn Wachstum in
Verbindung mit der herrschenden kapitalistischen Produktions- und
Lebensweise gesehen wird.[22] Diese ist eben nicht nur ein System, um Güter
und Dienstleistungen zu produzieren und zu konsumieren, sondern auch ein
System von Macht und Herrschaft - auch und gerade über die Natur. Dieser
Aspekt wird in wachstums- und kapitalismuskritischen Arbeiten kaum
thematisiert. Mit einer Perspektivausweitung, so meine zweite Ãœberlegung,
öffnen sich Debatten um ein anderes Wachstum oder Post-Wachstum für die
wichtige Frage, wie Gesellschaft demokratisch gestaltet werden kann.

Feministische Wachstumskritik

Die feministische Wachstumskritik nimmt einige der oben genannten Motive
auf; wenngleich feministische Einsichten immer wieder in anderen
wachstumskritischen Beiträgen - und auch in der Enquete-Kommission
"Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" - übergangen werden.[23]
Wachstumskritische feministische Beiträge sehen erstens das kapitalistische
System als in sich maßlos, das sich kaum um die Folgen des Wachstums
kümmert. Die  Gründe liegen unter anderem in der Grenzenlosigkeit des Geldes
und dem profitgetriebenen Akkumulationszwang. Die kapitalistische Ökonomie
ist zweitens eine Ökonomie der Trennung, in der formelle Marktprozesse von
ihren Voraussetzungen - nämlich der nichtbezahlten Arbeit, insbesondere der
Sorgearbeit, und den Elementen der Natur, die keine Waren sind - getrennt
werden.[24] Die alltägliche Reproduktion der Menschen, so die Kritik,
basiert aber nicht nur auf dem Erwerbseinkommen, sondern auf der meist
unsichtbaren und von Frauen geleisteten Haus- und Pflegearbeit. Dies
wiederum hängt an asymmetrischen Geschlechterverhältnissen, an
gesellschaftlichen Bewertungen von "wertvoller" und "nicht wertvoller"
Arbeit.[25] Insofern ist die Externalisierung von Kosten kein vom Staat
durch entsprechende Regeln zu behebendes Marktversagen, wie die
Wirtschaftswissenschaften annehmen, sondern ein "Prinzip", das entscheidend
zum Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft beiträgt. Drittens ist
Wirtschaftswachstum eng verbunden mit einem männlichen, rationalistischen
und westlichen Entwicklungsverständnis, das zuvorderst und als Bestandteil
patriarchaler Dominanzverhältnisse an der Beherrschung der Natur orientiert
ist.

Aus feministischer Perspektive sind andere Verständnisse von Wohlstand und
dessen Produktion sowie von Genuss notwendig - und damit ein viel breiteres
Verständnis von Ökonomie, das über die kapitalistische markt- und
geldvermittelte Wirtschaft hinausgeht. Gemeint sind viele
nicht-kapitalistische Wirtschaftsformen, die unter anderem als
Gemeinschaftsökonomien bezeichnet werden.[26] Die Perspektive weitet sich
deutlich aus: Es geht um die materielle Produktion und Reproduktion des
Lebens, insbesondere in der Form eines vorsorgenden Wirtschaftens und eines
Arbeitsbegriffs, der nicht nur die Lohnarbeit umfasst.[27] Wichtig ist dafür
die Stärkung von Prinzipien der Kooperation und Verantwortung, der
Suffizienz und Gerechtigkeit.[28]

Marxistische Wachstumskritik

Eine in der Tradition von Karl Marx stehende Wachstumskritik geht davon aus,
dass gesellschaftliche Dynamik erstens von der Produktion des Tauschwertes
und nicht von der Produktion der konkreten Gebrauchswerte bestimmt wird. Die
Ware, die den Tauschwert verkörpert, hat jedoch "mit ihrer physischen Natur
und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu
schaffen".[29] Marx war in seinen Schriften durchaus sensibel dafür, dass
durch die kapitalistische Akkumulationsdynamik die natürlichen
"Springquellen alles Reichtums" untergraben werden.[30] Auch die noch nicht
warenförmigen Bereiche, wie etwa öffentliche Daseinsvorsorge oder Elemente
der Natur, sollen tendenziell in Waren und Tauschwert umgewandelt werden.
Die kapitalistische Konkurrenz und der damit verbundene Zwang zur
Akkumulation sind weitere Merkmale, warum immer mehr und billiger produziert
wird und die Natur tendenziell als Gratisproduktivkraft genutzt und
übernutzt wird. Das Kapital als "Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt
(.) rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen,
(.) und die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die
immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere
Zwangsgesetze auf".[31] Das wird vor allem im Globalisierungsprozess
sichtbar, der zu einer intensiveren Konkurrenz und enormen Zunahme an
Ressourcenverbrauch geführt hat.

Drittens wird von einer herrschaftlich organisierten Arbeitsteilung
ausgegangen. Historisch hat sich eine Klasse von Eigentümern an
Produktionsmitteln und anderen Vermögen herausgebildet, die daran
interessiert ist, dass sich ihr Geld vermehrt. Die überwiegende Mehrheit der
Menschen besitzt kein oder wenig Vermögen, sondern reproduziert sich durch
Lohnarbeit, mit der die kapitalistischen Werte beziehungsweise Waren
produziert werden. Umso mehr Menschen ihr Leben über Lohnarbeit sichern,
desto eher werden die Produktion von Waren und damit kapitalistisches
Wachstum ermöglicht. Das sehen wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten in
China, wo Hunderte Millionen Menschen in Lohnarbeit gezogen wurden, um Waren
für die ganze Welt zu produzieren (und das in ihrer Mehrheit wohl auch
wollen, wenngleich man die konkreten sozialen und ökologischen Bedingungen
berücksichtigen muss). Die Klassenstruktur hat sich in vielen Ländern
ausdifferenziert. Dennoch gilt: Wenn Menschen von Lohnarbeit leben, haben
sie ein Interesse daran, dass sie diese Lohnarbeit nicht verlieren. Damit
sichern sie auch die kapitalistischen Klassenverhältnisse. Die meisten
Menschen anerkennen, weitgehend unfreiwillig und machtlos, als Lohnabhängige
nicht nur die kapitalistische Wachstumsmaschinerie, sondern eben die
darunter liegenden Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse.[32]

Es werden in der Diskussion viele Treiber des Wachstums genannt: technischer
Fortschritt, Produktivitätsentwicklung, Konsumismus und seine
sozialpsychologischen Dimensionen, die Notwendigkeit Kredite aufzunehmen und
zurückzubezahlen, Globalisierung und Urbanisierung. Das ist alles richtig.
Und doch gilt es zu berücksichtigen, dass zum einen die sozialen
Herrschaftsverhältnisse im Bewusstsein der solcher Herrschaft Unterworfenen
nicht als solche wahrgenommen werden, sondern als stummer Zwang anonymer
Verhältnisse, als kaum zu steuernde Prozesse von technischem Fortschritt und
globalem Markt, von Produktivismus und Globalisierung. Mit anderen Worten:
Die meisten Menschen erleben ihren Alltag als wenig handlungsfähige
Individuen - allen neuen Managementmethoden und Verantwortungsübertragung
sowie den Ansätzen zu politischer Partizipation zum Trotz. Das ist die Basis
kapitalistischer Kultur. Zum anderen bestehen zentrale gesellschaftliche und
wirtschaftliche Dynamiken unter Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz
darin, immer weitere Aspekte der Gesellschaft in marktfähige Waren zu
verwandeln. Das betrifft neben der Natur auch die Menschen, die ihre
Arbeitskraft verkaufen müssen. Insofern ist der kapitalistische Markt
beziehungsweise die Ökonomie nicht nur die Sphäre gesellschaftlicher
Innovation, Produktion, Allokation oder Konsum, sondern es konstituieren
sich darüber Herrschaftsverhältnisse entlang von Klassen-, Geschlechter- und
ethnisierten Linien.

Grenzen des Planeten oder Inwertsetzung der Natur?

Meine zweite Ãœberlegung besteht darin, Grundgedanken der feministischen und
marxistischen Wachstumskritik auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur
zu übertragen.

Die ökologischen Begründungen für ein neues Wohlstandsverständnis gehen
meist von einer Übernutzung beziehungsweise Zerstörung der Natur aus.
Prominent steht hier der Begriff der "planetarischen Grenzen".[33] Die
Menschheit und die einzelnen Gesellschaften sollen maximal so viel
verbrauchen, dass das Ökosystem Erde sich ohne langfristigen Schaden
alljährlich reproduzieren kann. Die Mittel dieser Anpassung sind eine
deutlich höhere Ressourceneffizienz und technologische Innovationen, aber
auch ein gesellschaftlicher Prozess der ökologischen Modernisierung, in dem
über politische Rahmenbedingungen und Wertewandel ökologischen Aspekten eine
hohe Aufmerksamkeit gegeben wird.

Ich schlage vor, der wachstumskritischen Debatte auch hier eine etwas
erweiterte Perspektive zu geben, in der das krisenhafte Verhältnis von
Gesellschaft zur Natur gefasst werden kann. Das berühmte Diktum der
"Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor Adorno war: "Jeder
Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird (d.h. sich
aus den Abhängigkeiten von der Natur zu lösen, U.B.), gerät nur umso tiefer
in den Naturzwang hinein (erhöht also die Abhängigkeit, U.B.)."[34] Das
erleben wir heute: Der Versuch, bei der Energieversorgung Erdöl durch
"saubere" Agrartreibstoffe zu ersetzen, führt in Ländern wie Indonesien zur
Umwandlung immenser kleinbäuerlich bewirtschafteter Landstriche in
kapitalistisch bewirtschaftete Ölpalm-Plantagen. Der Versuch, die globale
Ökonomie von der Abhängigkeit vom Öl zu befreien, schafft neue
Abhängigkeiten. Kapitalistische Gesellschaften sind damit konfrontiert, dass
die Antwort auf viele Herausforderungen darin gesucht wird, kapitalistische
Markt- und Wachstumsmechanismen auszubauen. Im Kapitalismus wird also
durchaus auf Probleme wie Umweltzerstörung reagiert. Wenn es etwas zu
verdienen gibt, dann stehen Investoren nicht abseits. Auch der Staat und die
Beschäftigten haben Interesse am Ausbau grüner Branchen. Daher sind eine
grundlegend andere Energiebasis und höhere Effizienz von Produktion und
Produkten und damit ein grüner Kapitalismus beziehungsweise eine grüne
Ökonomie durchaus denkbar. Ob damit die Degradation der natürlichen
Lebensgrundlagen wirkungsvoll gestoppt wird, ist nicht ausgemacht. Bislang
deutet nichts darauf hin.

Mit Horkheimer und Adorno lässt sich also argumentieren: Auch eine grün
gepolte Ökonomie, deren wesentlicher Antrieb Gewinn, Konkurrenzfähigkeit und
westlich-technologische Rationalität sind, deklariert sich zwar als
Bearbeitung der ökologischen oder gar der multiplen Krise, wird aber die
Naturbeherrschung und damit -zerstörung erhöhen.[35] Und sie wird
gleichzeitig soziale Herrschaft verstärken, da auch eine grüne Ökonomie von
einer Kontrolle des Kapitals über die gesellschaftlichen Naturverhältnisse
ausgeht.[36] Diesen doppelten Kern des Wirtschaftswachstums - der Herrschaft
von Menschen über Menschen und der Gesellschaft über Natur - thematisiert
auch die "starke" wachstumskritische Debatte zu wenig.

Demokratische Transformationen?

Viele Debatten in Deutschland zeichnen sich bislang durch die weitgehende
Ignoranz gegenüber Erfahrungen in Gesellschaften des globalen Südens aus.
Insbesondere "China" dient als Folie, wenn es um die fehlende Nachhaltigkeit
nachholender Modernisierung und Industrialisierung sowie globale
geopolitische und geoökonomische Konkurrenz geht.[37] Im globalen Norden
scheint derzeit Konsens zu sein, der Forderung aus dem globalen Süden
stattzugeben, dass dieser wachsen können muss. Die meisten Regierungen sowie
die Ober- und Mittelschichten südlicher Länder setzen in der Tat auf
Wirtschaftswachstum, das mit Naturausbeutung einhergeht. Das wird von den
Strategien der Rohstoffsicherung der nördlichen Regierungen und der
internationalen Institutionen unterstützt. Die lokale Bevölkerung hat meist
wenig oder gar nichts von der Ausbeutung von Ressourcen, sie muss jedoch oft
die negativen ökologischen Konsequenzen und Verwerfungen tragen. In den
Ländern des globalen Südens wäre daher zu fragen, welchen demokratischen
Gehalt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung hat. Welche
gesellschaftlichen Gruppen profitieren von den dominanten Entwicklungs- und
Wachstumsformen und welche nicht? Sind tote Bergarbeiterinnen und
Bergarbeiter aufgrund kostensparender mangelnder Sicherheit oder vertriebene
Kleinbäuerinnen und Kleinbauern lediglich zu vernachlässigende
"Kollateralschäden" von Wachstum und Entwicklung? Müssen wir das Diktum der
Wirtschaftswissenschaften als Wahrheit akzeptieren, dass insbesondere zu
Beginn dynamischer Entwicklung eben die soziale Ungleichheit massiv zunimmt?
Oder sollten wir genauer hinsehen, ob es in den Ländern wissenschaftliche
und gesellschaftspolitische Debatten und politische Kräfte gibt, die sich
gegen eine allzu brachiale kapitalistische Modernisierung stellen? In den
Blick zu nehmen wären hier die qualitativen Veränderungen sozialer
Beziehungen wie Arbeit oder Politik sowie die Formen gesellschaftlicher
Bedürfnisbefriedigung.

Doch kehren wir abschließend zurück in unsere Gefilde. Petra Pinzler
formulierte hinsichtlich wachstumsskeptischer Einstellungen der Bevölkerung
einen wichtigen Punkt: "82 Prozent halten zumindest im Grundsatz weiteres
Wirtschaftswachstum für nötig, um die politische Stabilität zu erhalten. Wie
Demokratie funktionieren könnte, wenn die Wirtschaft wirklich dauerhaft
schrumpfte - das also scheint für viele die wirklich unbeantwortete Frage zu
sein."[38] Ich habe darauf keine Antwort. Aber eine Präzisierung der Frage
ginge meines Erachtens in die Richtung, dass eine kollektive Bearbeitung der
sozioökonomischen und ökologischen Krise demokratisch organisiert werden
sollte. Demokratische Gestaltung ist mehr als politische Partizipation zur
Verbesserung von governance und politischer Legitimation sowie zur Erhöhung
der Lebenszufriedenheit. Der Anspruch auf demokratische Gestaltung fragt
zunächst einmal: Wer und was bestimmt eigentlich die als problematisch
erachtete Entwicklungsrichtung der Gesellschaft? Wie könnte sie bewusst von
allen Mitgliedern gestaltet werden? Das betrifft auch Formen der
Wirtschaftsdemokratie.[39]

Eine "wachstumsbefreite Gesellschaft" (Wolfgang Sachs) hätte die
unterschiedlichen Formen sozialer Herrschaft - klassen- und
geschlechterspezifischer, rassistischer und internationaler - sowie die
Herrschaft über die Natur anzugehen. Denn bislang ist die dominante
Erfahrung der meisten Menschen, die Gesellschaft nicht gestalten zu können.
An den Schalthebeln der politischen und ökonomischen Macht sitzen andere,
welche die wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen
treffen. Und die achten darauf - dieser Aspekt ist in der aktuellen Krise zu
berücksichtigen -, dass das auch so bleibt. Demokratische Prozesse hin zu
Post-Wachstum beziehungsweise die demokratische Transformation der
Gesellschaft umfassen attraktive und demokratisch gestaltete Formen der
Produktion und Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Kleidung, von Wohnen
und Zusammenleben: Wie sehen nachhaltige Städte aus, was bedeutet
solidarische Mobilität? Wie werden Nahrungsmittel nachhaltig, fair und
weltweit in ausreichender Menge produziert und verteilt, die gut schmecken
und gesund sind? Wie werden Konflikte ausgetragen mit den global players der
transnationalen Nahrungsmittelindustrie, wenn Lebensmittel wieder lokal und
regional produziert werden?

Eine wichtige Rolle spielen sozialökologische Experimente sowie "Pioniere
des Wandels" wie Erfinder, Unternehmen, Teile der Politik, Verbraucherinnen
und Verbraucher, Nichtregierungsorganisationen in unterschiedlichen
Bereichen wie Stadtentwicklung, Energieversorgung oder Landwirtschaft,
"welche die Optionen für die Überwindung einer auf der Nutzung fossiler
Ressourcen beruhenden Ökonomie testen und vorantreiben und so neue
Leitbilder bzw. Visionen entwickeln helfen, an denen sich der
gesellschaftliche Wandel orientieren kann. Die Pioniere agieren zunächst als
Nischenakteure, können dann aber zunehmend Wirkungskraft entfalten und die
Transformation entscheidend befördern."[40] Damit jedoch diese Pionierarbeit
nicht verpufft, sollten Fragen politischer Gestaltung mit jenen ökonomischer
und politischer Macht und Herrschaft verknüpft werden. Gerade deswegen
scheint es zentral, auf der Frage der Demokratie im Sinne einer bewussten
Gestaltung von Wirtschaft, Technik und Entwicklung sowie der Gesellschaft im
weiteren Sinn zu bestehen.

Fußnoten

1. Diese Diskussion geht auf die 1970er Jahre zurück. Vgl. Lutz Brangsch,
Kennziffernfragen sind Machtfragen, in: Kurswechsel, (2011) 1, S. 25-38;
Ulla Lötzer/Norbert Reuter, Wachstumskritik, in: Ulrich Brand et al.
(Hrsg.), ABC der Alternativen, Hamburg 2012, S. 322f.

2. Im Englischen wird der Begriff "Degrowth", im Französischen
"Décroissance" verwendet, die am ehesten mit "Wachstumsrücknahme" oder
"Rücknahme der Wachstumszwänge" übersetzt werden können. Serge Latouche
verwendet auch den Begriff des Nicht-Wachstums. Vgl. Serge Latouche,
Minuswachstum, in: Le Monde Diplomatique vom 12.11.2004

3. Vgl. Norbert Reuter, Von der Wohlstands- zur reinen Wachstumsenquete?,
in: Gegenblende, 15 (2012); Matthias Schmelzer/Alexis Passadakis,
Postwachstum, Hamburg 2011.

4. Vgl. Ralf Krämer/Herbert Schui, Wachstum!?, in: Sozialismus, Supplement,
(2010) 7/8; Friedrich Hinterberger et al. (Hrsg.), Welches Wachstum ist
nachhaltig?, Wien 2009.

5. Vgl. Matthias Machnig, Grünes Wachstum ist drin, in: Die Zeit vom
4.11.2010.

6. Vgl. UNEP, Towards a Green Economy, Nairobi 2011; Ralf Fücks, Das
Wachstum der Grenzen, in: böll-Thema, (2011) 2, S. 4ff.; kritisch: Elmar
Altvater, Mit Green New Deal aus dem Wachstumsdilemma?, in: Widerspruch 60,
Juni 2011, S. 121.

7. Vgl. Hans Christoph Binswanger, Vorwärts zur Mäßigung, Hamburg 2009; New
Economics Foundation (NEF), The Great Transition, London 2010.

8. Vgl. Johannes Pennekamp, Wohlstand ohne Wachstum, MPIfG Working Paper,
Nr. 1, 2011.

9. Vgl. Johan Rockström et al., Planetary Boundaries, in: Ecology and
Society, 14 (2009) 2, S. 1-33.

10. Vgl. Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum, München 2011.

11. Ebd., S. 54.

12. Vgl. ebd., S. 175ff.; Joan Martínez Alier, Socially Sustainable Economic
De-Growth, in: Development and Change, 40 (2009) 6, S. 1099-1119.

13. Richard Wilkinson/Kate Pickett, Gleichheit ist Glück, Berlin 2010, S.
20.

14. Vgl. ebd., S. 35, S. 61.

15. Vgl. auch: Bruno S. Frey/Claudia Frey Marti, Glück, Zürich-Chur 2010;
Richard Layard, Die glückliche Gesellschaft, Frankfurt/M. 2009.

16. Vgl. Niko Paech, Befreiung vom Überfluss, München 2012.

17. Vgl. auch: Hans Christoph Binswanger, Vorwärts zur Mäßigung, Hamburg
2009.

18. Vgl. N. Paech (Anm. 16), S. 120ff.

19. Ebd., S. 108.

20. Vgl. Serge Latouche, Die Unvernunft der ökonomischen Vernunft,
Zürich-Berlin 2004; Adelheid Biesecker/Sabine Hofmeister, Die Neuerfindung
des Ökonomischen, München 2006; Tomá¹ Sedláèek, Die Ökonomie von Gut und
Böse, München 2012.

21. So fragt Jackson, was unter Kapitalismus verstanden werden sollte, und
stellt lapidar fest: "Das ist gar nicht so einfach." Vgl. T. Jackson (Anm.
10), S. 200.

22. Vgl. Ulrich Brand/Markus Wissen, Sozial-ökologische Krise und imperiale
Lebensweise, in: Alex Demiroviæ et al. (Hrsg.), VielfachKrise im
finanzdominierten Kapitalismus, Hamburg 2011, S. 78-93.

23. Vgl. Friederike Habermann, Ecommony statt Economy, in: informationen für
die frau, 60 (2011) 10, S. 17-19.

24. Vgl. Adelheid Biesecker/Uta von Winterfeld, Geld, Wachstum und gutes
Leben, in: Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften (Hrsg.), Wege Vorsorgenden
Wirtschaftens, Marburg (i.E.).

25. Vgl. Adelheid Biesecker/Andrea Baier, Gutes Leben braucht andere Arbeit,
in: Politische Ökologie, 29 (2011) 125, S. 54-63.

26. Vgl. Julie Graham/Katherine Gibson (J.K. Gibson-Graham), The End Of
Capitalism (As We Knew It), Minneapolis-London 2006.

27. Vgl. A. Biesecker/U. v. Winterfeld (Anm. 24).

28. Vgl. F. Habermann (Anm. 23); Uta von Winterfeld, Vom Recht auf
Suffizienz, in: Werner Rätz et al. (Hrsg.), Ausgewachsen!, Hamburg 2011, S.
57-65.

29. Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 23,
Berlin 1968, S. 86.

30. Ebd., S. 530.

31. Ebd., S. 618. Vgl. auch: Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, wie
wir ihn kennen, Münster 2005.

32. Vgl. Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 3,
Berlin 1969, S. 34.

33. J. Rockström et al. (Anm. 9).

34. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M.
1944/2006, S. 19.

35. Vgl. auch: Christoph Görg, Regulation der Naturverhältnisse, Münster
2003; Ulrich Brand, Post-Neoliberalismus, Hamburg 2011.

36. Vgl. Christa Wichterich, Kapitalismus mit Wärmedämmung, in:
informationen für die frau, 60 (2011) 10, S. 5-7; Ulrich Brand, After
Sustainable Development, in: GAIA - Ecological Perspectives for Science and
Society, 21 (2012) 1, S. 28-32.

37. In China hat sich eine intensive Diskussion um Knappheit und ökologische
Folgen des Modells nachholender kapitalistischer Industrialisierung
entwickelt. Zudem berechnet die Regierung ein "grünes Bruttoinlandsprodukt",
für das die Umweltschäden abgezogen werden. Es wird jedoch aufgrund der
Kritik aus manchen Provinzen nicht veröffentlicht. Für diese Diskussion wird
der Begriff der Wachstumskritik (noch) nicht verwendet. Diese Hinweise
verdanke ich Josef Baum und Daniel Fuchs.

38. Die Zeit vom 18.8.2010, online:(28.5.2012).

39. Vgl. Alex Demiroviæ, Demokratie in der Wirtschaft, Münster 2007; Joachim
Beerhorst, Demokratisierung der Wirtschaft, in: Alex Demiroviæ et al.
(Hrsg.), Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel,
Frankfurt/M. 2004, S. 354-383.

40. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen, Welt im Wandel, Berlin 2011, S. 6f.

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