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Weg von der Wachstumsideologie und ihren heiligen Kühen!

Der Schweizer Volksentscheid aus einer anderen Perspektive

Christoph Pfluger 12.02.2014

Der globalisierte Markt besteht aus drei heiligen Kühen. Die Kuh des
unbegrenzten Kapitalverkehrs grast dort, wo es am schnellsten Milch gibt.
Diese versickert dann vorzugsweise an der Wall Street, in der City of London
oder an der Zürcher Bahnhofstrasse - wo immer die unsichtbare Hand es will.
Die heilige Kuh des freien Güterverkehrs weidet dort, wo die Hirten arm
sind; aber ihre Milch wird verkauft, wo die Kaufkraft liegt.

Das Resultat sind Butterberge im Westen und kahle Matten und Mistberge in
der restlichen Welt. Weil dies keine dauerhafte Land- und Weltwirtschaft
ist, darf die Kuh des freien Personenverkehrs überall äsen und so für eine
gerechte Verteilung der öden Weiden und Fladen sorgen. Das ist im Grunde die
ganze Bibel dieser heiligen Dreifaltigkeit.

Wie im Neuen Testament gibt es auch im Katechismus des heiligen Marktes die
Drohung des Untergangs, den zerstörerischen und gleichzeitig heilsamen
Moment der Erkenntnis, bei dem der Glaube an der Realität zerschellt. Wann
dieser Prozess beginnt, wissen wir nicht.

Am 9. Februar hat jedenfalls eine knappe Mehrheit der Schweizer Stimmbürger
bei der heiligen Kuh der Personenfreizügigkeit Verdauungsprobleme
diagnostiziert und Bereitschaft signalisiert, auf ihre Segnungen zu
verzichten [1]. Irgendwie scheinen wir gemerkt zu haben, dass das
Versprechen des großen Marktes auf ewiges Wachstum selbst in der
privilegierten Schweiz nicht wirklich in Erfüllung gehen will. Mehr fressen
und mehr ausscheiden ist nicht Wachstum, sondern Völlerei.

Eher ein "Land des Mutes"?

Der Aufschrei war grell: Der deutsche Focus zeichnete eine
"Rassismus-Chronologie" [2] der fremdenfeindlichen Schweiz; "Die Schweiz
sagt: Fuck the EU", schrieb [3] Die Zeit und der Spiegel titelte [4]: "Land
des Geldes, Land der Angst".

Vielleicht ist es eher ein "Land des Mutes", wie einer der vielen Leser
kommentierte, die den Abstimmungsentscheid deutlich positiver beurteilten
als die Leitartikler. Offenbar ist auch Europa gespalten in Eliten und
Fußvolk.

Die Schreiber der europäischen Leitmedien hätten besser zuerst die Fakten
geprüft, bevor sie ihr neuestes Feindbild mit Häme und Drohungen
überschütteten. Immerhin hat die Schweiz gemäß den eigenen Statistiken der
EU eine mehr als dreimal höhere Zuwanderung als der EU-Durchschnitt.

Nur in den Sonderfällen und Kleinstaaten Luxemburg und Zypern ist der
Bevölkerungsanteil der Ausländer noch größer. Und wenn man die schrillen
Debatten in England, Frankreich oder den Niederlanden mit denen hierzulande
vergleicht, dann erscheinen die helvetischen Diskussionen nachgerade
zivilisiert. Solange man den Gang der Dinge an der Urne bestimmen kann,
braucht man eben nicht auf die Barrikaden zu steigen.

Mehr EU-Recht umgesetzt als manches EU-Mitglied

Die schroffe Reaktion der EU ist allerdings verständlich: Der Glaube an die
Religion des großen Marktes bröckelt auch in den eigenen Landen. Deshalb
wird jetzt lauter als üblich gepredigt und deshalb müssen Abtrünnige
besonders scharf bestraft werden. Nur: Die Schweiz ist ein vergleichsweise
kleines Problem für die EU.

Zum Einen sind wir ziemlich brav, verhandeln zahm und haben erst noch mehr
EU-Recht umgesetzt als manches EU-Mitglied. Zum anderen hat die EU mehr als
genug eigene Probleme: Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai
werden voraussichtlich die zentrifugalen Kräfte gestärkt; die Schuldenkrise
bedroht immer mehr auch das Kernland Frankreich und 2017 wollen die Briten
über ihren Verbleib in der EU abstimmen.

Das sind Sprengladungen, neben denen sich der Selbstbestimmungsanspruch der
Schweiz wie ein Rinderfurz ausmacht. Aber offenbar ist er laut genug, die
heiligen Kühe in Aufruhr zu versetzen.

Migration als Volkssorge ernst- und der SVP als "Wahlhelfer" wegnehmen

Natürlich muss jetzt auch die Schweiz in Aufruhr geraten. Vor allem muss die
Migration als Volkssorge ernst genommen, als Wahlhelfer der SVP weggenommen
und endlich parteifrei und sachlich über die Fragen diskutiert werden, die
sich dahinter verbergen: Wachstum und Gerechtigkeit. Wir werden nicht darum
herumkommen, uns von der Wachstumsideologie und ihren heiligen Kühen zu
emanzipieren und uns dezidiert für internationale Wirtschaftsgerechtigkeit
einzusetzen.

Wenn die Länder dieser Erde ihre Ressourcen nicht selber und demokratisch
verwalten können, wird die Not der Migranten den letzten Winkel der Welt
erreichen und sie entweder in eine Kolonie der Entwurzelten oder in Reichen-
und Armen-Ghettos verwandeln.

Wenn sie geduldig ist und den ersten Sturm der Entrüstung aushält, braucht
sich die Schweiz vor den Verhandlungen mit der EU nicht zu fürchten. Es wird
ihr gehen wie allen, die Irrlehren in Frage stellten: zuerst verfemt und
bekämpft, dann geduldet und schließlich bewundert.

Die Schweiz hat viele Freunde und Bewunderer in Europa, nicht unter den
Regierungen, aber an der Basis, wo man sich nach mehr Demokratie sehnt, weil
man spürt, dass kein Weg an ihr vorbei führt. Denn große Aufgaben mit
schmerzlichen Lösungen, wie sie die Entzauberung des Wachstums fordert,
lassen sich nur mit echten Mehrheiten umsetzen.

Der Autor des Gastbeitrags ist Herausgeber des Schweizer Magazins Zeitpunkt
[5].

Links

[1] http://www.heise.de/tp/blogs/8/155831
[2] http://www.focus.de/politik/ausland/_aid_1067059.html
[3] http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-02/kommentar-schweizer-abkommen
[4] http://www.spiegel.de/politik/ausland/a-952409.html
[5] http://www.zeitpunkt.ch/

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Zeitpunkt, 11. Februar 2014
Personenfreizügigkeit ist kapitalfreundlich - nicht menschenfreundlich
Von Ivo Muri, Zeitforscher
http://tinyurl.com/kkznoob




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