Ein Artikel aus dem Blog: http://bit.ly/cvQnWk

In der Internetzeitung „Berliner Gazette“ ist gerade ein Artikel erschienen, 
der den Anlass für einen höchst zündstoffreichen Konflikt geliefert hat. Der 
Artikel „Die Twitter-Bibel“ ist zunächst wenig spektakulär. Es handelt sich 
dabei um den Bericht über eine moderne Form der Bibeldidaktik, die darin 
besteht, den gesamten Bibeltext in twittergerechte Fragemente zu zerlegen und 
durch viele einzelne Tweets einem Lesepublikum zu präsentieren.
In dem Artikel heißt es: „Die Twitter-Bibel ist bereits ein mutiger Schritt…“ 
Diese Formulierung hatte ich zum Anlass für einen Kommentar genommen, in dem 
ich meine Skepsis gegen die „Mutigkeit“ dieses Projekts äußerste und statt 
dessen behauptete, es sei nicht mutig, sondern überfällig. Mein Kommentar:

"Den Text der Bibel in Fragmente aufzuteilen und zitierbar zu machen ist das 
Ergebnis eines historischen Umformungsprozeses, der bereits mit dem Buchdruck 
eingesetzt hatte. Schon vor der Reformation wurde die Bibel von einem Monument 
in ein Dokument umgeformt. Die Monumentform der Bibel besagte, dass alles 
Textverständnis nur als ‘richtiges’ Verständnis und damit als Gottes Wille 
möglich war. Wahrheit war das entsprechende Beobachtungsschema, das die 
Rezeption der Bibel steuerte. Mit dem Buchdruck und mit der Reformation änderte 
sich das. Die Bibel als Monument wurde in ein Dokument umgeformt, wodurch ein 
ganz anderes Beobachtungsschema entstand. Durch dieses veränderte 
Beobachtungsschema entstand auch das, was mit Andreas Rudolff-Bodenstein von 
Karlstadt angefangen hatte, nämlich die Textkritik als Methode der Exegese."

Dieser Kommentar wurde wiederrum von einem Leser namens „Salvy Ungemach“ 
kommentiert, der mich über die Falschheit einer ganz bestimmten Aussage in 
diesem Kommentar belehrte. (Den ganzen Verlauf der Kommentardiskussion kann man 
hier nachlesen.)
Durch Kommentar und Gegenkommentar kam eine Diskussion in Gang, die schließlich 
mit folgender Mitteilung von Salvy Ungemach enden musste:

"Tja. Bis auf g.n. fällt mir nichts mehr ein."

Als ich diesen Kommentar gelesen hatte, fiel mir zunächst nur die Abkürzung 
„g.n.“ auf und ich fragte mich, was sie bedeuten könnte. Nach einer kurzen 
Internetrecherche schrieb ich:

"Diese Abkürzung g.n. steht für ‘gojim naches’ und ist in der jüdischen 
Familiensprache üblich gewesen. Mit dieser Abkürzung codierten Juden 
geringschätzende Meinungen über ihre christlichen Nachbarn, die scheinbar 
abseitige und zweifelhafte Auffassungen und Meinungen vortrugen. Wurden Juden 
danach gefragt, was diese Abkürzung bedeutete, antworten sie mit ‘ganz nett’. 
So konnten praktisch beleidigende Äußerungen getätigt werden ohne das bemerkbar 
zu machen. Notwendig waren solche Codierungen aufgrund des virulenten 
Antisemitismus: Wenn Christen Juden beleidigten galt das als gewöhnliche Sache; 
aber andersherum wurde es den Juden zum Nachteil ausgelegt. Daher das ‘ganz 
nett’ – die Juden entzogen sich auf diesem Weise dem Problem. Interessant ist 
nun, dass mit dem Internet solche Verheimlichungen nicht mehr funktionieren, 
weil man mit einfachen Mittel sehr schnell heraus finden kann, was gemeint ist, 
bzw. gemeint sein könnte. Siehe dazu: Chuzpe, Schmu
 s & Tacheles: jiddische Wortgeschichten. Von Hans Peter Althaus."

Am Tag zuvor hatte ich diesen Kommentar schon einmal angebracht, aber er ist 
von Chefredakteur der „Berliner Gazette“ – Fabian Wolff – einfach gelöscht 
worden. Mir wurde giftig mitgeteilt, dass mein Kommentar beleidigend sei. 
Deshalb hatte ich nun, beim zweiten Mal, folgenden Zusatz angefügt:

"Ich bitte darum diesen Kommentar nicht zu löschen, weil noch nicht klar ist, 
ob sich irgendwer beledigt fühlt. Denn: wer beledigen will muss sich andere 
Formen der Codierung ausdenken. Und wer sich gegen Beleidigung schützen will 
auch. Einfach Kommentare löschen löst das Problem nicht."

Auch dieser Kommentar wurde wieder gelöscht mit der selben Behauptung. Man 
fragt sich, was das soll. Denn die Abkürzung „g.n.“ ist ein Ausdruck der 
beleidigendenden Geringschätzung, der gegen mich gerichtet war; diese Abkürzung 
tarnt sich aber als ironische Wendung ins Gegenteil, wenn man eben dies heraus 
findet. Eigentlich sehr lustig.

Zum Hintergrund: Eine Mitarbeiterin der Berliner Gazette – Magdalena Taube – 
hatte mich zuvor per E-Mail kontaktiert und angefragt, ob ich für die Berliner 
Gazette einen Artikel beisteuern wolle. Honorar gäb’s keins; es handelt sich um 
ein Amateurprojekt. Ich hatte zugesagt und einen Artikel zum Thema „Zerrüttung 
der Dokumentform durch das Internet“ abgeschickt. Noch bevor dieser Artikel 
erscheinen konnte ist es zu oben geschildertem Verlauf der Kommentardiskussion 
gekommen. Mit einiger höchst giftigen und rüden Begründung ist die Löschung 
meines Kommentars beantwortet worden, auch mein Versuch, auf ein 
Missverständnis aufmerksam zu machen, wurde genauso kaltschnäuzig und 
herablassend zurück gewiesen. Unter diesen höchst ungastlichen Umgangsformen 
kann ich natürlich nicht damit einverstanden sein, dass meine Artikel dort 
erscheinen. Denn wer weiß welche Frechheiten, gegen die zu erwehren man mir 
untersagt, dort außerdem noch entstehen können. Und nun?
  Man könnte diese Kleinigkeit als mangelnde Medienkompetenz abtun und das 
ganze auf die jugendliche Unerfahrenheit der Leute zurechnen, was gewiss die 
Sache zur Hälfte erklären kann.
Interessant ist dieses Affärchen aber aus einem ganz anderen Grunde, nämlich 
dann, wenn man es soziologisch ernst nimmt.

Die interessante Frage, die man gerade aus der Geschichte des Antisemitismus 
ableiten kann, ist immer noch höchst relevant. Wie schüzt man sich gegen 
Sinnzumutungen, die es auf die Zerstörung der sozialen Integrität von Personen 
abgesehen haben? Der Versuch der Beleidigung tritt als Ergebnis der doppelten 
Kontingenz auf. Alter und Ego können sich nur dann gegenseitig beleidigen, wenn 
sie übereinanander darüber informiert sind, dass Beleidigung als Beleidigung 
codiert ist. Wird aber ein Sinnangebot doppelt codiert und entlang einer 
Distinktionsachse, welche die Beobachtungsverläufe durch doppelte Kontingenz 
asymmetrisch ausfächert, in einen Mehrkontextzusammenhang gestellt, so ist 
prinzipiell eigentlich nicht eindeutig zu klären, ob eine Beleidigung 
ausgesprochen wurde oder nicht. Diese Uneindeutigkeit eines 
Mehrkontextzusammenhangs funktioniert damit wie eine Tarnung, eine Maskierung, 
die sicher stellt, dass man sich den Folgen der Kommunikation, zu deren 
Ergebnis m
 an nichts beitragen kann, entziehen kann, ohne die Irreversibilität der 
Ereignisse als Kommunikationsproblem zu sehen. Im Gegenteil: die 
Unvorhesehbarkeit aller möglichen Folgen kann auf doppelte Weise reflektiert 
werden. Aber: was wäre, wenn eine solche Distinktionsachse selbst durch 
Mehrkontextzusammenhänge ihre Scharnierfunktion verliert? Wenn ein soziales 
Unterscheidungsprogramm, das etwa Attributionen über Relgions- oder 
Nationalitätszugehörigkeiten gewährleistet, durch andere 
Unterscheidungsprogramme in seinem Ablauf in der Weise gestört werden, dass 
Sinnzumutungen, die als doppelt codiert in Erscheinung treten, selbst wiederrum 
als doppelt codierbar dekonstruiert werden können?

Bei der Berliner Gazette können solche Vorkommnisse nur mit einer 
zurückgeblieben Humanmoral behandelt werden, die nichts dagegen einzuwenden 
hat, die Integrität des einen durch die Zerrüttung der Integrität des anderen 
zu verteidigen. Die Humanmoral der trivialisierten subjektphilosphischen 
Tradition steht als Hindernis im Wege. Diese Moral macht urteilslos, macht 
„menschendumm“.

Klaus Kusanowsky


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