IMAGERY IN THE 21st CENTURY, hrsg. v. Oliver GRAU unter Mitarbeit von Thomas VEIGL
Mit Beiträgen von: Sean CUBITT, Martin SCHULZ, Eduardo KAC, Thomas VEIGL, Stefan HEIDENREICH, Olaf BREIDBACH, Dolores & David STEINMAN, James ELKINS, Wendy CHUNG, Christa SOMMERER & Laurent MIGNONNEAU, Marie Luise ANGERER, Peter WEIBEL, Adrian CHEOK, Tim Otto ROTH, Harald KRÄMER, Lev MANOVICH, Martin WARNKE, Oliver GRAU und Martin KEMP MIT Press, Cambridge, Mass. 2011; 410 S., 132 Farb- und SW-Abb.; ISBN 978-0-262-01572-1; € 29,99 Nach "Virtual Art. From Illusion to Immersion" (2003) und "MediaArtHistories" (2007) hat Oliver Grau, Inhaber des ersten Lehrstuhls für Bildwissenschaften im deutschen Sprachraum am Department für Bildwissenschaften der Donau-Universität Krems (Niederösterreich), unter Mitarbeit von Thomas Veigl, in der MIT Press ein reiches Sammelwerk zum entgrenzten Bildbegriff der Gegenwart vorgelegt. Neue technische Produktionsweisen, vielfältige digitale Visualisierungsmöglichkeiten und neue technische Distributionswege wie die Social Media Plattformen des World Wide Web oder internetfähige Smart Phones haben in den letzten Jahren auch unseren Bildbegriff tiefgehend verändert und erweitert. Unter dem Globaltitel "Imagery in the 21st Century" werden neuartige Formen und spezifische Funktionen von Bildlichkeit in der zeitgenössischen Kultur der neuen digitalen Medien untersucht. Es geht dabei nicht allein nur um die aktuellen Herausforderungen durch die neuen Bilder und ihren inflationären Gebrauch in unserer globalisierten Kultur, die für Alle eine neue Bildkritik als (soziale) Schlüsselkompetenz einfordern. Fortgeführt wird unter diesen aktuellen Bedingungen und rasanten Entwicklungen der Digitalen Kulturen auch die von W. J. T. Mitchell bereits in den Neunziger Jahren angestoßene Debatte, was denn Bilder überhaupt ausmachen und was sie in Gesellschaften bewirken wollen, bzw. wie sie funktionieren und was sie auslösen können. Die zahlreichen Beiträge des in englischer Sprache verfassten Bandes von Oliver Grau diskutieren dafür exemplarisch unterschiedliche virtuelle, mitunter interaktive Bildphänomene in Kunst, Populärkultur und Wissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der verschiedenen kritischen Diskussionen stehen dabei besonders all jene komplexen Bildprozesse, die Unsichtbares in Sichtbarkeit überführen und dabei Verständnis oder Wissen über ein intuitives Erfassen durch die körperlichen Sinne generieren. Denn augenscheinlich beginnen moderne Gesellschaften heute wieder stärker und neu "in Bildern zu denken": "The iconic turn is definitely capable of holding its own in the face of the overpowering fixation on language and text – by conferring on the image its own cognitive capability. The image is not just some new theme; rather it concerns a different way of thinking. This entails thinking with images: images as an independent means of cognizance. Yet even here we see that the iconic turn remains reliant on language." (S. 16) Eine international renommierte Beiträgerschaft aus Kunst, Natur- und Geisteswissenschaften widmet sich daher transdisziplinär dieser jüngsten "Revolution des Bildes" und ihrer Auswirkungen auf eine globalisierte Mediengesellschaft der Gegenwart. Prämisse für alle Einzelstudien ist gleichzeitig die Beobachtung, dass wohl niemals zuvor in der Kulturgeschichte sich die Methoden und Techniken der Bilderzeugung und -verbreitung so rasant und fundamental verändert haben wie in unserer jüngsten Gegenwart: "Never before has the world of images changed so fast; never before have we been exposed to so many different image forms; and never before has the way images are produced transformed so drastically. Images are advancing into new domains: private platforms, like Flickr with its billions of uploads or Facebook with several hundred million members, have become very powerful tools. Second Life, micro movies, or vj-ing are keywords for a ubiquitous use of images. Television is now a global field of thousands of channels; projection screens have entered our cities; a hundred thousand and one new video are published every day, in video communities like YouTube and the interactive three-dimensional world of images: a virtual and seemingly authentic parallel universe is expanding" (S.1) Was zunächst wohl für viele als eine reine Binsenweisheit daher kommen mag, erschöpft sich aber weniger in einer plakativen "Buchbindersynthese", sondern dient tatsächlich im Band als eine fruchtbare Ausgangsdiagnose, die im Weiteren zu differenzierten und spezifischen Auslegungen in den verschiedenen ausgewählten Beiträgen führt. Gleichzeitig sind die internationalen Beiträger dabei bestrebt, vor diesem Hintergrund traditionelle theoretische Grundlagen neuer kritischer Reflexion zu unterziehen und dem Leser ein facettiertes Spektrum aktueller Techniken und Technologien der Bildproduktion, -distribution und -archivierung sowie des wissenschaftlichen Einsatzes vorzustellen. Angestrengt werden eine erste Kategorisierung, Ordnung und Analyse der vielfältigen Visualisierungstechniken und -methoden des digitalen Zeitalters. In Ansätzen darf man darin eine neue Theoriebildung für die Visuelle Kultur im Zeitalter aktueller Herausforderungen für die künstlerisch-gestalterische Praxis der Gegenwart erkennen, die durch Phänomene wie Hybridisierung und Immaterialisierung in der Gestaltung oder Emanzipation der Rezipienten zu Usern oder Mitproduzenten forciert werden. Aufgabe einer für das digitale Zeitalter aktualisierten Bildtheorie wären demnach wiederum Durchdringung, Analyse, Reflexion, Kritik und Vermittlung neuer visueller Kulturen jenseits der bereits alt gewordenen modernen und trennenden Vorstellungen von Kunst und Visueller Kommunikation. Die Bildherstellung hat sich im digitalen Zeitalter nicht nur quantitativ gesteigert, enorm beschleunigt und gesellschaftlich demokratisiert, sondern auch in völlig neue Kompetenzbereiche hinein verlagert, in der beispielsweise nicht mehr nur Künstler und professionelle Gestalter als die bislang alleinig kompetenten Bildproduzenten aktiv wirken, sondern auch die sogenannten ,User', ehemals Dilettanten genannt, beziehungsweise vor allem aber auch die (Software-)Entwickler, die nun ästhetischen Programme und die dazugehörigen Bildeffekte als Templates liefern. Konsumenten sind heute auch Produzenten. Diese neuen Möglichkeiten der technischen Bilderzeugung und Bildverbreitung, d. h. die unübersichtliche Vielzahl aktueller technologischer und sozialer Möglichkeiten Bildmaterial instant zu produzieren und global zu distributieren, führt gleichzeitig zu neuartigen Bildgenres, -techniken und ästhetischen Rezeptionsweisen, die der Band ebenfalls kursorisch mitreflektiert. Schließlich reicht die Spanne der neuen digitalen Bilder heute vom Makrokosmos in Publikationen zur Astrophysik his hin zum Mikrokosmos in populärwissenschaftlichen Visualisierungen der Teilchenphysiker. Die heutigen Bildtheoretiker verstehen jedoch diese digitalen Bilder nicht mehr allein nur als Illustrationen, sondern verweisen vielmehr auf die neue Wirkungsmacht und heikle Totalität der neuen Bilder. Denn zunehmend produzieren diese, etwa als Schlagbild oder Infographik, auch Verständnis und Wissensformen jenseits von Sprache und Text. Mit all den damit einhergehenden Missverständnissen und Manipulationsmöglichkeiten, wenn man beispielsweise bedenkt, wie obskure Satellitenbilder in den Massenmedien als Beweismittel und Argument für die Legitimierung politisch-militärischer Interventionen im 2. Irak-Krieg dienten oder in den Naturwissenschaften mittels Photoshop bereits Beobachtungs- und Forschungsergebnisse für Fachjournale gefälscht werden! Oder der schöne Zusatz "Artist's Impression" als ästhetischer Warnhinweis in den Medien den brisanten Konflikt zwischen den Bildern der Kunst und des Kommunikationsdesigns respektive der naturwissenschaftlichen Darstellungen pointieren. Bilder sollten daher in unserer digitalen und globalisierten Kultur gerade nicht imrner ganz das allerletzte Wort haben: "Images increasingly define our world and our everyday life: in advertising, entertainment, politics, and even in science, images are pushing themselves in front of language. The mass media, in particular, engulf our senses on a daily basis. It would appear that images have won the contest with words: Will the image have the last word?" (S. 6) Mithin treffen diese grundlegenden Veränderungen im besonderen Wirkungsverhältnis der Bilder unsere Gesellschaft aber noch weitgehend unvorbereitet, vermerken die beiden Herausgeber nachdrücklich. Es gilt im aufklärerischen Sinne gerade einen vorherrschenden Aniconism, eine Unbedarftheit, die neuen Bilder adäquat zu verstehen und in ihrer (sozialen) Wirksamkeit zu durchschauen, kritisch zu überwinden. Und tatsächlich werden ohne wissenschaftliche Analyse, Reflexion und Kritik, ohne die Untersuchungen neuer Formen der digitalen Visualisierung und "Ordnungen der Sichtbarkeit" diese Explosion der Fälle an neuen Bildern und die Komplexität des Bildwissen unserer Zeit gesellschaftlich kaum genügend durchdrungen und souverän verarbeitet werden. Man mag den Sammelband daher als einen ersten notwendigen Schritt dahin verstehen. Die Liste der zeitgenössischen Bildexperten und Kulturtheoretiker, die dafür ihr Wort erheben, ist jedenfalls so beachtlich wie beeindruckend, auch wenn sie wiederum die üblichen Verdächtigen' auffährt -lesenswerte Einzelstudien und Essays liefern hier u. a. Marie-Luise Angerer, Olaf Breidbach, James Elkins, Martin Kemp, Lev Manovich und Peter Weibel. Gleichwohl mangelt es aber auch "Imagery in the 21st Century", wie so vielen anderen Sammelwerken, leider an einer gewissen formalen wie qualitativen Kohärenz. Nach einem ausführlichen Einführungstext der beiden Herausgeber Grau und Veigl, der zugleich einen konzis zusammenfassenden Überblick der folgenden Einzelbeiträge liefert, stoßt der Leser neben neuen Forschungsergebnisse auf bereits bekannte, für Sammelwerk, das Oliver Grau als "collaborative text" umschreibt, offensichtlich nochmals eigens aufgelegte und zuvor an anderer Stelle publizierte Thesen und Gedanken. Werkberichte stehen neben kulturphilosophischen Betrachtungen, Essayistisches neben analytisch-wissenschaftlichen Textsorten. Es ist damit jedoch ein äußerst anregender Reader entstanden, so disparat und heterogen wie die neuen komplexen Bildwelten, die er zu reflektieren wünscht, und damit eine "Theory of Everything" in der digitalen visuellen Kultur nebenbei verwirft. Gefordert sein werden in der Zukunft auch vielmehr Methodologien für ein fluides Wissen und kognitives Erfassen neuer ultra-visueller Bilder, d. h. Artefakte, in denen das Visuelle immer cross-modal, multi-sensual und transgenerisch gleichzeitig mit anderen Sinneskategorien wie etwa das Hören verknüpft sind. Und so wie unserer aktuellen Kultur, dank der neuen Kommunikationstechnologien wie den Blogs und Social Media Plattformen, heute jeder selbst zum Sender und Empfänger, zum (Bild-)Experten und Kritiker, avancieren kann und darf, verdient es aber auch dieser neue Band zu den neuen Bildphänomenen jenseits der alt gewordenen modernen Kunstgeschichte, dass sich jeder einmal selbst ein Bild davon macht. Daher zur individuell entdeckenden Lektüre unbedingt empfohlen. Prof. PAMELA C. SCORZIN, Dortmund, erschienen in: Journal für Kunstgeschichte 15, 2011, Heft 4, S. 278-281. Weitere Information:: http://mitpress.mit.edu/catalog/item/default.asp?ttype=2&tid=12675 http://www.mediaarthistory.org/pub/Imagery21Century.html
-- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.in-mind.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.in-mind.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/