Bring the Noize

Holger Schulze über „Sounds Like Silence“ im Hartware MedienKunstVerein Dortmund
Texte zur Kunst, 21.11.2012, in: Gesehen und bewertet

http://www.textezurkunst.de/daily/2012/nov/21/schulze-sounds-silence-dortmund/

Ich trete in den Kreis. Der junge Mann hinter dem weißen Kreis auf dem Boden 
erhebt sich, zieht seine Jacke an und geht voraus. Ich folge ihm, die 
Rolltreppen hinunter über jede Etage des Dortmunder U (Zentrum für Kunst und 
Kreativität in der ehemaligen Union-Brauerei). Wir durchqueren die Bürogebäude, 
laufen auf der Straße in Richtung Nordstadt, vorbei an Supermärkten, einer 
Konzerthalle und betreten eine Brache, die von hohen Gittern nur notdürftig 
abgeschirmt ist. Er führt mich an den Rand des Geländes, wir gehen durch die 
Büsche, über moosige Abhänge voller Backsteine; dann stehen wir in einer 
kleinen, sandig-kieseligen Lichtung: eine Handvoll knallgelber Buchstaben, 
vermutlich aus dem ehemaligen Schriftzug eines Supermarktes liegen dort. Wir 
wenden uns um in Richtung auf das Dortmunder U und der Mann, der mir 
vorangegangen war, zeigt mir nun seine Stoppuhr und nimmt die Zeit. Einmal nach 
33 Sekunden; einmal nach 2 Minuten 40; und schließlich nach einer weiteren 
Minute und 20 Sekunden. Schon auf dem Weg dorthin hatte ich die Geräusche 
unseres Schuhwerks gehört, das Dröhnen vom Metall der Baufahrzeuge und den 
fernen Verkehrslärm.

Nun aber, eingebettet in die drei per Stoppuhr markierten Sätze, sind all diese 
Klänge der Umwelt Komposition: die Warnsignale, die Vogelschwärme, Bahnlinien, 
Rufe und Spaziergeräusche. Die Arbeit „In Begleitung“ (2012) von Jens 
Heitjohann aus Leipzig, an der ich als Teil der Ausstellung „Sounds Like 
Silence“ teilgenommen habe, hat mich zum liebsten Hörort dieser einen Person 
gebracht. Als Besucher zwingt mich  diese Arbeit mitten hinein in genau die 
auditive Erfahrung, die John Cages Komposition „4'33''“ seit ihrer 
Welturaufführung am 29. August 1952 durch den Pianisten David Tudor in der 
Maverick Concert Hall bei Woodstock (New York) verkörpert. Cages Komposition 
ist kein „stilles“ Stück – auch wenn dies oft leichthin behauptet wurde und 
wird; der Komponist selbst zitierte diese Zuschreibung nur höchst pikiert und 
irritiert – steht doch die Nichtstille, der Lärm und alle Geräusche des 
täglichen Lebens jenseits musikalischer Aufführung im Zentrum dieser 
Komposition. Der kulturkritische und musikästhetische Schlachtenlärm, der 
„4'33''“ seither begleitete und der weiteren Aufführungen des Stücks stets 
vorauslief, all dies kann in der beeindruckend kuratierten und mit viel Gespür 
und Witz inszenierten Ausstellung im Dortmunder U nachvollzogen und erlebt 
werden.

Im Jahr 2012, in dem John Cage hundert Jahre alt geworden wäre, ist „Sounds 
Like Silence“ dezidiert keine Cage-Huldigung: anders als der große 
Archivüberblick in der Akademie der Künste Berlin („A Year from Monday. 365 
Tage Cage“, beendet am 5. September 2012), anders als die kaum überschaubare 
Menge an Aufführungen im weltweiten Konzertkalender unter dem Titel „CAGE100“ 
(noch bis in den Juli 2013, Koordination: Forum Zeitgenössischer Musik 
Leipzig), anders auch als die beeindruckende Versammlung von hybriden Ansätzen 
zwischen Neuer Musik und bildender Kunst in der Mathildenhöhe Darmstadt („A 
House Full of Music“, beendet am 9. September 2012). Inke Arns und Dieter 
Daniels konzentrieren sich dagegen in ihrer Ausstellung ganz auf diese eine, 
vermutlich bekannteste Komposition von Cage und ihre Entstehungszeit in den 
1950er Jahren – was Anlass bietet, direkte Vorläufer, künstlerische Reaktionen 
und heutige Aufführungen und Bearbeitungen von „4'33''“ zu zeigen und zu 
diskutieren. Dieser starke Fokus und die dramaturgisch außergewöhnlich 
gelungene Raumgestaltung tragen entscheidend zum faszinierenden Gelingen dieser 
Ausstellung bei: es gelingt ihr sowohl ein breites Publikum anzusprechen als 
auch Cageianer/innen mit vielen Fundstücken und Interpretationen zu 
überraschen. Auf den ersten Blick themenfremd beginnt die Ausstellung mit einer 
großräumigen, grafischen Einführung in Skalen und Bedingtheiten des 
Hörvermögens sowie mit einem Überblick über die Geschichte der Hör- und 
Klangforschung in den Künsten und Wissenschaften der letzten hundert Jahre. 
Dieser Gang in die Ausstellung hinein geleitet die Besucher zugleich wohltuend 
unaufdringlich, doch dezidiert in die Fragen und Anliegen der Klangkunst, der 
akustischen Ökologie und der Sound Studies und trägt damit auch zum erweiterten 
Verständnis des Nachlebens von „4'33''“ in all diesen Disziplinen bei.

Die erste Konfrontation des Besuchers mit „4'33''“ in dieser Ausstellung ist 
zudem keine vermeintliche Originalaufführung, sondern eine medientechnische 
Inszenierung durch das BBC Symphony Orchestra anno 2004, sportreportageartige 
Begleitkommentare des TV-Sprechers inklusive. Die institutionelle, 
musikhistorische und auch apparative, ja finanzielle Provokation, die in diesem 
Stück steckt, wird hier unmissverständlich deutlich: ein renommiertes 
Konzerthaus, die Barbican Hall in London, wird bespielt, von 
Orchestermusikerinnen und -musikern, die viereinhalb Minuten lang gerade keine 
Klänge hervorbringen, die nicht das tun, wofür sie doch in langen Jahren 
ausgebildet und abgeprüft, ausgewählt und für diesen Abend gebucht und entlohnt 
wurden, und für die eine regelrechte Materialschlacht aufgefahren wurde: Das  
gigantische Hördispositiv des Konzerthauses plus öffentlich-rechtlicher 
Liveübertragungsmaschinerie spielt nur sich selbst, sonst nichts. Erst nach 
diesem einschneidenden Nicht-, oder genauer, Andershörerlebnis in der 
Ausstellung führen die Kuratorin und der Kurator den Besucher zu begleitenden 
Werkgruppen von Cage (etwa die frühen „Imaginary Landscapes“ vor 1952 oder die 
späten „Number pieces“ seiner letzten Lebensjahre), zu Dokumenten des 
historischen Kontexts, zur Vielfalt der verschiedenen Partituren, in denen 
diese Komposition vorliegt – bis hin zu zeitgenössischen Varianten, 
Bearbeitungen und Reaktionen von Charles Wilp, Nam June Paik, Guy Debord und 
Heinrich Böll – sowie zu aktuellen Beispielen künstlerischer Aneignung und 
medialer Inszenierung von Brandon LaBelle, Manon de Boer, Jens Brand, Ultra-Red 
und nicht zuletzt Bruce Nauman. Zwei Schwerpunkte der Ausstellung sind dabei 
besonders deutlich: zum einen die popkulturellen Aneignungen des Stückes, zum 
anderen Arbeiten jüngeren Datums, die „4'33''“ als ein eigenes Genre der Kunst 
erkennbar machen.

Aus dieser letzten Gruppe stechen drei Werke hervor: Bruce Naumans „Mapping the 
Studio I – All Action Edit (Fat Chance John Cage)“ (2001), Jens Brands „Stille 
– Landschaft“ (2002) und Jens Heitjohanns eingangserwähntes „In Begleitung“. 
Heitjohanns Interpretation des Cage‘schen Konzepts als beeindruckend 
performative und situativ-intime Umsetzung ist zweifellos ein Höhepunkt von 
„Sounds Like Silence“. Gerade die Nicht-Reproduzierbarkeit und 
Inkommensurabilität dieser Arbeit (jede/r Besucherin erlebt eine andere 
Begleitung und Hörsituation) hebt den Ansatz von „4'33''“ radikal auf den Stand 
aktueller ästhetischer Debatten der radikalen Performativität, des Ephemeren 
und der Flüchtigkeit (wie etwa bei Paweł Althamer, Tino Sehgal oder Janet 
Cardiff & George Bures Miller). Durchaus vergleichbar ist Naumans Arbeit, für 
die er monatelang die nur vermeintliche Stille und Ödnis seines Ateliers in New 
Mexico per Infrarotkamera aufzeichnen ließ. Dieser Arbeit ist ein gesamter 
großer Ausstellungsraum gewidmet, in dem sie auf sieben Leinwänden an allen 
Seiten des Raumes projiziert wird, so dass sie die Betrachter/innen direkt in 
die räumliche Situation des Ateliers versetzt. Ähnlich wie Cages Stück die 
Situativität des Hörens betont und Heitjohanns Performance diese noch weiter 
individualisiert und mobilisiert, wird in Naumans Umsetzung der vermeintlich 
leere, unmarkierte Raum der künstlerischen Nicht-Tätigkeit, das nächtliche 
Atelier, zu einem Kunstwerk, in dem Zettel und Staub, Tiere und Geraschel, 
Lichtwechsel und fernen Lärm zu Akteuren werden: wildes Pandämonium 
nachtaktiver Atelierbewohner. „Stille – Landschaft“ von Jens Brand schließlich 
wird in einem schallisolierten und resonanzarmen Raum gezeigt, der in der 
Ausstellung als Holzcontainer steht, dessen Betreten als Übertritt in eine 
selbstverantwortete Erfahrungssituation inszeniert ist: die Referenz auf Cages 
wiederholten Bericht seiner einschneidenden Erfahrung beim Besuch eines 
schalltoten Raumes und seiner Überraschung, darin dennoch seinen Herzschlag und 
seine Neuronenaktivität zu hören, ist überdeutlich. Brands Arbeit zeigt einen 
360°-Schwenk über eine Salzwüste im Norden Botswanas und konfrontiert so die 
radikale Klangereignisarmut dieses Ortes mit Erwartungen an absolute, 
ästhetisch reduzierte Totenstille. Ich bin in diesem Filmcontainer auditiv 
eindeutig abgeschnitten von der gesamten Ausstellung und Außenwelt; eine 
Isolation, die jedoch die Isolation des Kameramanns von der Restwelt nur 
andeuten kann, die dieser zum Zeitpunkt der Aufnahme erlebte. Varianten der 
Stille werden erfahrbar.

Popkulturell war „4'33''“ Vorlage für viele Verballhornungen, Künstlerwitze und 
zahllose Tonträger-Gimmicks (wie an einem Punkt der Ausstellung vorgeführt 
wird); sei es im Projekt „Cage Against The Machine“, mit dem über vierzig 
britische Musiker/innen (darunter Coldcut, Orbital, Pete Doherty, Billy Bragg, 
The Vaccines, Kooks, Imogen Heap, Unkle) im Jahr 2010 ein weiteres Mal das 
musikindustrielle Ritual der anrührend-verkaufsträchtigen Weihnachtsballade auf 
Platz 1 der Charts durchbrechen wollten: diesmal (nach Rage Against The 
Machines „Killing In The Name“ im Vorjahr) mit einer Single, die alle 
Musiker/innen im Studio untätig ließ, viereinhalb Minuten hörbares Schweigen. 
Das variantenreiche Schweigen setzt sich fort in Dick Whytes suggestivem 
Zusammenschnitt einer unendlichen Folge von „4'33''“-Aufführungen auf YouTube 
oder ähnlichen Onlinevideoplattformen, von Profi- oder Laienmusikern: Cages 
avantgardistisches Werk zeigt sich hier als ein globaler Evergreen, der längst 
ins kollektive Popkulturgut eingemeindet ist. Bester Beleg hierfür ist 
sicherlich die Aufführung 2010 durch Helge Schneider, Harald Schmidt, Katrin 
Bauerfeind samt Showband in Schmidts Late-Night-Show: der öffentlich-rechtliche 
Sendeplatz am späten Abend erlaubte hier zwar eine Grenzüberschreitung – Neuer 
Musik am unüblichen Sendeplatz –, die allerdings durch Ironiesignale abgefedert 
werden musste – die vom Jazzmusiker Schneider selbst wieder ironisiert werden, 
fast straßenkarnevalshaft (aufdringlich gespieltes Gähnen, Räkeln, Schnalzen, 
Schnaufen, Stoppuhranschauen etc.pp.). Schneider ironisierte also ein weiteres 
Mal die bildungsbürgerlich-humorige Vereinnahmung des Cage-Stückes als 
Insiderwitz. Spätestens mit dieser Aufführung ist der Bogen zurück zur 
BBC-Aufführung geschlagen. Beide Beispiele belegen, dass womöglich mit der 
Distanz zu den Zeitgenossen in Musik und Kulturkritik (von freundschaftlich 
verbundenen Künstlern/Künstlerinnen und Komponisten/Komponistinnen wie 
Christian Wolff, Alvin Curran, Alison Knowles oder Kritikern/Kritikerinnen und 
Publizisten/Publizistinnen wie Heinz-Klaus Metzger, Richard Kostelanetz oder 
Daniel Charles) auch eine distanziertere, vielleicht banausischere, in jedem 
Fall aber vielfältigere und komplexe, auch popkulturelle Interpretation dieses 
Stückes möglich geworden ist: jenseits einer moralisierenden Hörpädagogik des 
Stillehörens einerseits oder einer posttraumatischen 
Avantgardebelastungsstörung andererseits, die immer wieder aufs Neue die 
gegenkulturellen Kämpfe der Vergangenheit durchzukämpfen hat. In der 
überraschenden Interpretationsvielfalt, die Inke Arns und Dieter Daniels  aus 
ihrer Konzentration auf eine einzige Arbeit Cages gewinnen (die instruktive, 
begleitende Publikation mit Artikeln u.a. von David Toop, Brandon LaBelle sowie 
des Kurators und der Kuratorin belegt dies) ist „Sounds Like Silence“ mit 
Sicherheit die vielleicht wichtigste, sicherlich aber eine der besten 
Ausstellungen des ausgehenden Cagejahrs 2012.

„Sounds like Silence", Hartware MedienKunstVerein, Dortmund, 25. August 2012 
bis 6. Januar 2013.


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Dr. Inke Arns
Künstlerische Leiterin
Hartware MedienKunstVerein (HMKV) im Dortmunder U
Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund
Büro: Hoher Wall 15, 44137 Dortmund
T + 49 - 231 - 496642-0
F + 49 - 231 - 496642-29
i...@hmkv.de
www.hmkv.de
www.inkearns.de

Currently on view:
SOUNDS LIKE SILENCE
Cage / 4'33'' / Stille
1912 / 1952 / 2012
HMKV im Dortmunder U, 25. Aug. 2012 - 6. Jan. 2013


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