Erscheint im Sommer 2013 in: 
What’s next? Kunst nach der Krise
Hg: Johannes M. Hedinger/Torsten Meyer
Kulturverlag Kamdos, 2013
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Für heute habe ich genügend fette Frauen gesehen


UBERMORGEN.COM / 2013


Die Prämisse klingt in unseren Ohren wie Ketzerei: Kunst sei nutzlos, ja 
komplett sinnlos und es wäre immer schon so gewesen und es würde auch immer so 
bleiben. Dem liegt die These zu Grunde, dass die Kunst - wie auch die 
Finanzindustrie - keinerlei Produkte und auch keine Dienstleistungen erzeuge. 
Kunst produziere keine Nahrungsmittel, keine Medizin, keine Energie, keine 
Baustoffe, keine Maschinen, keine Information, und auch keine Kultur, nicht 
einmal Sinn oder Wissen würde durch Kunst erschaffen, und das hieße Kunst sei 
einzig und alleine für die Unterhaltung, die Ablenkung und die Befriedigung der 
Menschen da, und ab und zu diene sie auch als Statussymbol und Geldwaschanlage 
für reiche und einflussreiche Menschen und Firmen, ja sie sei sogar 
verbraucherfreundlich, und dieser Zusatznutzen sei überhaupt das schlagendste 
Argument gegen die romantische Verklärung eines solch unregulierten Bereichs 
unserer Gesellschaft.

„Für heute habe ich genügend fette Frauen gesehen“,
anonymer Museumsbesucher.

Nun zur nahen Zukunft, dort wo Investitionen in elitäre und ekelhaft teure 
Kunst in Form von Ideen, Objekten, Zertifikaten auch für die Proleten der 
Unterschicht und für die Emporkömmlinge oder Statuserhalter der Mittelschicht 
möglich wird. Es drängt sich vordergründig der Vergleich zum Finanzmarkt der 
späten 1990er Jahre auf (Volksaktie, Dotcom, NASDAQ), kleine Investoren 
bekommen die Möglichkeit sagenhaft teure Kunst kollektiv zu erwerben, 
häppchenweise und zu einem erschwinglichen Preis, mit dem Versprechen, dass 
diese Kunst auch auf immer und ewig an Wert zunehmen werde. Die Kleininvestoren 
können in einzelne Kunstwerke oder ganze Werkgruppen, in umfassende Nachlässe 
und in globale Kunstmarken - Künstler, Galerien, Auktionshäuser, Museen - 
investieren. Aber wie schon seit jeher fließt der Hauptanteil des Profits auf 
wundersame Weise bergauf, es werden Transaktionsgebühren aufgeschlagen und der 
konsolidierte Mehrwert bewegt sich dann unaufhaltsam in Richtung der 0,01%. Der 
Mensch von der Straße dient als immerwährend stumpfer und zunehmend einfacher 
zu manipulierender Liquiditätslieferant, durch Massenmedien dumm gehalten und 
durch Medikamente und Drogen gedämpft, unfähig zu eigenem Willen, dienen diese 
Arbeitsesel zur schnellen und günstigen Finanzierung des weiteren Wachstum des 
sogenannten Kunstmarktes, diesem korruptesten und intransparentesten Gebilde 
mit limitiertem Zugang, Pragmatiker nennen es Marktversagen, 
Verschwörungstheoretiker und Wirtschaftswissenschaftler sprechen von einer 
Oligarchie.

In der zweiten Hälfte der 2010er Jahre gibt es dann erstmals Anzeichen von 
Demokratisierung und Regulierung dieses plutokratischen Systems. Die 
neugegründete Art Exchange Commission (AEC) in Shanghai wird als globale 
Regulierungsbehörde eingesetzt und in der Folge werden die neuen großen 
Marktplätze, gegen allen Widerstand, von den Chinesen aufgekauft und 
verstaatlicht. Der chinesische Staat greift auch sonst stärker in den 
Kunstsektor ein und beginnt eine globale Kunsttransaktionssteuer zu erheben. 
Durch Förderungen, Stipendien und zielgerichtete Zensur wird etwas mehr 
Stabilität für die kapitalstarken Investoren und eine Grundsicherheit für die 
kleinen Anleger suggeriert. Kunstobjekte von staatlich finanzierten Künstlern 
werden zumeist als Bonds zertifiziert und vertrieben. Der Staat hat ein neues 
Finanzkunst- / Kunstfinanzinstrument geschaffen und finanziert damit 
Kunstsubvention. Das System wird selbsttragend und dadurch ein lohnendes 
Zielobjekt für profitorientierte Entitäten.

Parallel dazu geschieht der Durchbruch, in Form des Konzeptes der „virtuellen 
Existenz“: Das Kunstwerk muss von nun an nicht mehr existieren, um gehandelt zu 
werden, es genügt ein Zertifikat um den Besitz zu manifestieren und zu 
legalisieren. Nun werden auch alle historisch relevanten Kunstobjekte 
verstaatlicht und eingezogen und nur noch zeitnahe, sogenannt zeitgenössische 
Kunst darf offen und virtuell gehandelt werden. Die Objekte und Dateien 
verschwinden in den Depots und auf den Servern der Institutionen zirkulieren 
legale und illegale Raubkopien und Zertifikate ungehindert. Dadurch wird die 
Kunst metaphysisch, sie beginnt erst im Moment ihrer eigentlichen Auflösung 
wirklich zu existieren.

Dieser radikale Schritt öffnet Tür und Tor für Spekulation, neue 
Transaktionsarten, geteilte Besitzmodelle und Handelssysteme entstehen und das 
neu erschaffene „Glaubenssystem“ basiert auf einer Pyramide deren Basis aus 
Kunstmarken, und die darüber liegenden Ebenen aus Nachlasssystemen, Genres, 
Generationen, Kunstbewegungen und -szenen, besteht. Kunstbesitz wird nun 
ausschließlich in Fonds strukturiert, und durch die, dank der Digitalisierung, 
sehr hohe Bewegungsfähigkeit entwickeln sich neue Formen der Distribution. Der 
Markt beweget sich in Richtung binäre Objekte - Zertifikate, Unterschriften, 
Gif-Animationen, Jpgs, Mp3, Filme, Textfiles und weitere historische Objekte 
wie html-, css- und flashfiles sowie neue noch unbekannte Formate. Obsolete und 
mittlerweile illegale Konzepte der Finanzindustrie (Aktien, Derivative, 
Optionen, Futures, Credit Default Swaps), Arbitrage und die Idee des Hedge 
Fonds werden adaptiert. Nun steht dem globalen Crash des Kunstsystems nichts 
mehr im Wege.

Die Marktplätze verschieben sich dramatisch, von den verstaatlichten 
Institutionen und Marktplattformen, den historischen Kunstgalerien und den 
letzten übriggebliebenen Messen hin zu den neuen digitalen 
Hochgeschwindigkeitshandelsplattformen.

Die Dinosaurier der Kunstmessen werden in spektakuläre, oscarartige, 
Preisverleihungsshows umgewandelt, um den Unterhaltungsaspekt des Kunstsektors 
und dessen Protagonisten optimal zu vermarkten. Kunst wird weiter popularisiert 
und immer mehr zu einem vordergründig praktischen Medium, vergleichbar mit 
Musik oder Film.

Der daraus entstandene, moderne Kunstmarkt und seine Teilnehmer sind 
Maschinennetzwerke in denen sich, einst von Menschenhand geschaffene, komplexe 
Algorithmen autonom weiterentwickeln. Es dominiert der Hochfrequenzhandel: 
Serverfarmen in Dubai, anonyme Handelsteilnehmer, offshore 
Zertifizierungsgesellschaften, bitcoinartige Währungssysteme und andere, dem 
Menschen unverständliche und seiner Kontrolle gänzlich entzogene Technologien 
und Instrumente, dominieren die Marktlandschaft.

Nun verlieren auch die Künstler komplett die Kontrolle über ihre 
Zuliefertätigkeit und die Netzwerke übernehmen die Kunstproduktion. Zu Beginn 
werden aufgrund der Analyse der Kunstgeschichte neue Konzepte errechnet und 
zertifiziert, ähnlich eines modernen Schachcomputers errechnen die Netzwerke 
optimale Varianten und Produkte. In der Folge werden alle Bereiche der 
Kunstproduktion autonom, und in einem ultimativen Akt der 
Autonomiemanifestation beginnen die Maschinencluster neue Identitäten, 
Marktsättigungslevels und Finanzierungs- und Marketingstrategien zu errechnen.

Die Konvergenz ermöglichte zu Beginn des binären Zeitalters die Benutzung einer 
Plattform für Handel, Produktion, Distribution und Konsumation von Kunst, und 
genau diese Konvergenz ermöglicht es nun den Netzwerken die Kunstproduktion zu 
emulieren, zu kapern und zu monopolisieren. Das Hauptargument: Die Qualität der 
Netzwerkkunst ist um ein vielfaches höher als die herkömmlich erstellten 
Produkte und auch die Kritik und das Bewertungssystem sind längst an die 
Netzwerke ausgelagert und in Folge übernommen worden.

Die Menschen sind obsolet geworden, sie sind reine Übersetzer, Beobachter ihres 
eigenen Machtverlustes und entweder Bewunderer der neuen Ästhetik oder 
fundamentalistische Kritiker jeglicher Netzwerkkunst. Die vormals neoliberalen 
Kuratoren und Kritiker dienen nunmehr als Handlanger, sie arbeiten als 
Assistenten für die virtuellen Instanzen - Historiker und Archäologen. Ihr 
Versuch die Netzwerke zu verstehen scheitert an der übermenschlichen 
Geschwindigkeit und an der unglaublichen Vielfältigkeit der Entwicklung. Es 
entsteht Natur pur, chaotisch und komplex und ohne Quellcode unmöglich zu 
interpretieren.

Nach einer längeren Periode der rein binären Kunst einigen sich die Netzwerke 
darauf wieder materielle Objekte herzustellen. Sie beginnen 3D-Macher - vormals 
3D-Drucker - zu entwerfen, diese wiederum drucken 3D-Macher, welche dann 
effektiv materielle Kunst herstellen können. Ehemalige Museen, Fast-Food 
Restaurants, Copy-Shops, Bibliotheken und Kleidergeschäfte werden Musterzimmer 
für die Zurschaustellung maschinengemachter Dinge. Offensichtlich haben die 
Netzwerke Ironie und einen Sinn für Romantik entwickelt, und es stellt sich die 
Frage, ob eine Art kollektives Bewusstsein mit verschiedenen Seinszuständen und 
Selbstkritik folgen wird.

Bis heute wurden in den Netzwerkarchiven keine Kunst gesichtet, die fette 
Frauen beinhaltet, und anonyme Museumsbesucher gibt es schon seit langen nicht 
mehr.










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Ha̧̨̧̨̧̨̧̨̧̨̧̨̨̧̨̧̧̨̧̨̧̨̨̧̩̦̩̩̩n̨̨̧̨̨̨̨̧̨̧̩̩̩s̨̧̩ 
Beŗ̨̨̩n̨̨̧̨̨̨̩̩h̨̧̩̩a̧̨̧̨̧̨̧̨̧̨̧̨̨̧̨̧̧̨̧̨̧̨̨̧̩̦̩̩̩ŗ̨̨̩d̨̧̨̨̧̧̨̨
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