literaturkritik.de » Nr. 8, August 2004 » Schwerpunkt: Literatur und Erster 
Weltkrieg » 

Die Angst des Leutnants am Katheter
John King untersucht Jüngers Kriegstagebuch des Ersten Weltkriegs
Von Manu Slutzky


"So haben wir mit 20 Mann über hundert Mann erfolgreich bekämpft [sic!], 
trotzdem wir Anweisung hatten, uns bei überlegener Annäherung zurückzuziehen. 
Ich muß sagen, ohne mich selbst loben zu wollen, daß ich das nur erreicht habe 
durch Überlegenheit über die Situation, eiserne Einwirkung auf die Leute und 
durch Vorangehen beim Ansprung auf den Feind. [...] In solchen Momenten Führer 
sein mit klarem Kopfe, heißt der Gottähnlichkeit nahe sein. Wenige sind 
auserlesen."

Für Ernst Jünger war der Erste Weltkrieg ein Ort der "Festigung des Selbst" und 
der Selbstverwirklichung, der "Bestätigung der Welt und des Wortes" im 
Heroismus, aber auch eine Zeit des Beschreibens und damit Bewältigens der 
eigenen Ängste und der beklemmenden und "beherrschenden Gegenwart" des 
Frontgeschehens. John King stellt seiner Dissertation "'Wann hat dieser 
Scheißkrieg ein Ende?' Writing and Rewriting the First World War" eine 
Bewertung der Forschungsliteratur zu Ernst Jünger voran, in der er zeigen kann, 
dass 50 Jahre Jünger-Forschung auch als Spiegel der ideologischen Verwerfungen 
zu lesen sind, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts insgesamt 
charakterisiert haben: So folgte auf die existentialistischen und 
humanistischen Lesarten der 50er Jahre eine politische Radikalisierung der 
Jünger-Rezeption in den 60ern und 70ern bis hin zu den vulgärmarxistischen 
Thesen Gerda Liebchens (1977), die den Autor im Dienste "imperialistische[r] 
Herrschaftsinteressen" und "monopolkapitalistische[r] Produktionsverhältnisse" 
stehen sah. Die partiell polemische, gleichwohl wissenschaftlich-systematische 
und überdies ergiebige Auseinandersetzung hatte ihren Ursprung bei Karl Prümm 
(1974) genommen, dem King einerseits Scharfsichtigkeit, andererseits 
Kurzsichtigkeit bescheinigt, war durch Theweleits "Männerphantasien" (1977) 
kurzfristig suspendiert worden - wobei sich auch hier "eine Reihe nützlicher 
Einsichten" finden ließen - und war dann einer sachlichen, genauen, in der 
Regel werkbiographisch orientierten Forschung gefolgt, die ihren vorläufigen 
Höhepunkt in Hans-Harald Müllers autorintentionalem Ansatz in "Der Krieg und 
die Schriftsteller" (1986) gefunden hatte.

Die bei weitem folgenreichste Studie war Karl Heinz Bohrers Bielefelder 
Habilitationsschrift "Die Ästhetik des Schreckens" (im Untertitel "Die 
pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk") von 1978 gewesen, die den 
Autor erstmals im Kontext der Moderne verortete, deren Erkenntnisse King jedoch 
als defizitär klassifiziert, weil Bohrer "weder Jüngers Schuld gegenüber den 
klassisch modernen Praktiken der Erkenntnis noch die Beziehung zwischen Jüngers 
'Ästhetizismus' und seinem soziokulturellen Kontext" berücksichtigt habe. 
Ähnlich detailliert und engagiert klopft Kling auf 25 Seiten die 
Forschungsliteratur nach Brauchbarem ab, mit dem Ergebnis, dass sich seine 
Dissertation etwas schleppend anlässt (auch der scheppernden Übersetzung 
wegen). Seine Strategie, Jünger und die eigene Fragestellung zu Jünger erst 
einmal einzukreisen, verfolgt King dann auch im dritten und vierten Kapitel, 
die unter anderem das Verhältnis der "Intellektuellen" (Georg Heym, Freud, 
Rilke, Franz Marc, Hugo Ball, Otto Dix, Johannes R. Becher und Thomas Mann) zum 
Krieg thematisieren und bei Jünger "imaginäre" (nämlich in die Fantasie) und 
"wirkliche" Fluchten (in die Fremdenlegien, in den Krieg) unterscheiden.

Alles im Grunde Präliminarien, Wiederholungen, Auswertung der Forschungslage, 
etwas willkürlich, etwas schülerhaft gewiss, aber nicht ohne Erträge. Erst im 
5. Kapitel nimmt dann Kings Boot wirklich Fahrt auf: Von nun an geht es um 
Jüngers Kriegstagebuch, um die authentische Vorfassung seines Erstlings "In 
Stahlgewittern" (1920), um die primären Aufzeichnungen also, die Jünger an der 
Front gemacht und für die spätere Veröffentlichung wieder und wieder bearbeitet 
hat. 1995 erhielt King noch von Jünger selbst die Erlaubnis, den Marbacher 
Vorlass einzusehen, und Jüngers Witwe, das aus den späten Tagebüchern bekannte 
"Stierlein", gestattete ihm dann auch, aus dem Kriegstagebuch zu zitieren. King 
ist damit der erste Literaturwissenschaftler, der detailliert zeigen kann, dass 
das Kriegstagebuch nicht nur eine "Manuskriptvariante" des Jünger'schen Buches 
darstellt, sondern auch bislang unbekanntes "biographisches Material" bietet.

Am 24. Mai 1917, kurz nachdem Jünger vom kommandierenden Offizier seines 
Regiments, Oberst von Oppen, "eine Riesenzigarre" wegen einer kleinen 
Verfehlung bekommen hatte, notierte er in sein Tagebuch: "Wann hat dieser 
Scheißkrieg ein Ende?" Bis dahin hatte sich bei dem abenteuerlustigen 
Ex-Abiturienten längst Ernüchterung eingestellt, war Jüngers "Traum heroischer 
Taten" ausgelöscht und dem Bewusstsein der "tödlichen Trostlosigkeit" der Front 
gewichen. Lediglich kleinere Patrouillen, die ins Niemands- oder Feindesland 
führten, gaben ihm das Gefühl "wirkliche[r] Kampferfahrung". Einmal begeisterte 
er sich über einen "tollkühnen Engländer", der kaltblütig und "von unseren 
Kugeln umzischt", wahre "Meisterschüsse" abgegeben habe.

Wie King herausarbeitet, zeigt das Kriegstagebuch auch, dass Jünger "keineswegs 
ein vorbildlicher Untergebener war". Wie auch seine Essays, vor allem 
"Annäherungen" (1970), zeigen, stand er mit Vorgesetzten ebenso auf Kriegsfuß 
wie mit der Befehlskette, der "konventionelle[n] Befehlsgewalt" und der 
Kleiderordnung. Denn oft hatten seine Vorgesetzten ebensowenig Einblick in die 
Gefechtslage wie der einfache Soldat oder der Stoßtruppführer, und dennoch 
schickten sie ihre Mannen ungerührt ins Feuer. Starre Ideologie und blinde 
Loyalität traten an die Stelle strategischen Augenmaßes und kalkulierbarer 
Einsätze. Gleichwohl zeigte Jünger Ehrgeiz, spekulierte auf Beförderung und auf 
das "schwarzweiße Band" des Eisernen Kreuzes.

Bei der Ästhetisierung der eigenen Kriegsmitschriften stützte er sich auf 
"literarische Texte und andere überlieferte kulturelle Zeugnisse als 
Bezugspunkte": das allegorische Motiv des Totentanzes oder ein "Stimmungsbild" 
à la Böcklin, damals der mit Abstand berühmteste symbolistische Maler in 
Deutschland, ersetzen oder situieren ihm die eigene Todeserfahrung im 
Fronteinsatz, ein Zitat aus Ariosts "Orlando furioso" verklärt die Angst des 
Leutnants am Katheter: "Ein großes Herz fühlt vor dem Tod kein Grauen / Wenn er 
auch kommt, wenn er nur rühmlich ist".

Im November 1916 ist Jünger bei einem Spähunternehmen in der Nähe von St. 
Pierre-Vaast zum dritten Mal verwundet worden - "Ein Geschoß hatte mir die 
rechte Wade durchbohrt und die linke gestreift" -, Mitte Dezember wird er mit 
dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet, im Februar 1917 erfolgt seine 
Ernennung zum Kompanieführer des Regiments. Er hat die Sommeschlacht 
mitgemacht, das Feldlazarett Villeret und das Kriegslazarett Valenciennes 
überlebt ("Tag für Tag verließ unter dumpfem Trommelwirbel ein Leichenzug das 
große Portal"), das blutige Handwerk der Ärzte und das segensreiche Wirken der 
Schwestern beobachtet und dem Sterben eines Kameraden aus nächster Nähe 
zugesehen: "Ich fühlte hier zum ersten Male, daß der Tod eine große Sache ist."

Nüchtern und mit kritischer Distanz begleitet King die Selbstfeier des 
ehrgeizigen Kriegers, lediglich vom Ausmaß erstaunt, in dem dieser "trotz 
seines heldischen Projektes und seiner patriotischen Erziehung seine 
Verzweiflung und seine Enttäuschung angesichts des Krieges" offenbart:

"Diese bekenntnishaften Textstellen wurden aus In Stahlgewittern 
hinausredigiert, da sie nicht mit dem Bild übereinstimmten, das Jünger von sich 
selbst zu zeichnen versuchte, bzw. mit der Erinnerung des Krieges, die er zu 
schaffen versuchte."

Eine unpassende Formulierung, war es doch eher so, dass das Bekenntnis der 
Verzweiflung und der Enttäuschung in die Veröffentlichungsform gar nicht erst 
aufgenommen worden war. Wie King nämlich ausführlich darstellt, wurden die 
"Ursprünge" des Kriegstagebuches "In Stahlgewittern" bei der Redaktion einer 
Rekonstruktion und Neuinterpretation des Krieges unterzogen, wurde 
authentisches Material ausgeschieden oder reinterpretiert sowie fiktives 
Material neu aufgenommen und teilweise umformuliert.

John King: "Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?". Writing and Rewriting the 
First World War.
Übersetzt aus dem Englischen von Till Kinzel.
Edition Antaios, Schnellroda 2003.
318 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN 3935063520 
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