Formal lässt sich die Unterscheidung von literarischen und nicht-fiktionalen Texte auf der Ebene ihrer jeweiligen Verweisstruktur begründen. Während nicht fiktionale Texte eine offene Verweisstruktur besitzen (denn sie können auf alles verweisen, von dem angenommen wird, dass es real sei, erschafft die schöne Literatur ihren eigenen Kosmos als geschlossene Gegenwelt. Die Struktur des Netzes, in dem sich technisch jeder Punkt mit jedem anderen verbinden lässt, entspricht deshalb eher einem nicht fiktionalen Inhalt, da Beschreibungen, die sich selbst als Beschreibung von Realität beschreiben, sich mit allen anderen Beschreibungen des gleichen Realitätsverständnisses verbinden lassen. Fiktionalität dagegen ist immer geschlossen. Die Buchdeckel makieren physikalisch die Grenze des Buches. Es ist deshalb kein Wunder, dass Fiktionalität (das heißt Fiktionalität, die sich als solche beschreibt), eigentlich erst in Folge des Buchdruckes entsteht. Abgesehen von den sicherlich wichtigen ökonomischen Implikationen, der nun entstehenden Unterhaltungsliteratur, besteht eine formale Analogie zwischen der Geschlossenheit des Buches und der Abgeschlossenheit der Fiktion. Im Gegensatz zum Buch, zum Film und zum Theaterstück ist eine Narration im Internet vom Medium her nicht kategorisch abgeschlossen. Deshalb eben funktionieren im Internet jene Erzählungen gut, die als Non-fiction daherkommen, als Nachricht oder Dokumentation (Blair Witch Project, lonely girl 15 etc.). Die Ästhetik des Netzes verlangt literarisch und theatralisch gleichsam eine Vermischung von Realität und Fiktion. Die Entwicklung vom web zum web 2.0 verspricht eine Entwicklung von der Netzliteratur, die nur gelesen wird zur Netzperformance*[1]*. Der Ästhetik des Netzes theatralisch zu folgen könnte deshalb eine Literarisierung von Wirklichkeit und eine „Realisierung" von Literatur bedeuten. Hier wäre beispielsweise anzuschließen an Rimbaud, Artaud, Lasker-Schüler und Dada. Die Figuren krabbeln aus den Büchern heraus, steigen von der Bühne oder der Leinwand herab, woran man sie als Autor kaum wird hindern können, denn die Figuren haben ihr eigenes Leben, dass sich maßgeblich den Medien und Formaten verdankt, in denen sie geboren wurden und ihr Leben haben. Überträgt man die Struktur des Netzes in den dreidimensionalen Raum, entsteht die Konzeption des fiktiven Künstlers*[2]*.
*[1]* Die unterschiedlichen künstlerischen Bereiche sind unter den Bedingungen des Netzes neu zu definieren. Das Literarische bezieht sich auf das Ausdenken und Entwickeln von Narrationen sowie ihrer Darstellung in der Schrift in Hyperstruktur, das Theatralische erscheint einerseits als die transitorische Kommunikation von Figuren und Avataren und andererseits als Prozess der Verkörperung, die dann wiederum in der Aufnahme zum Datensatz werden. Und das filmische Element schreibt sich im Kombinat von Bewegtbild und Audiospur fort. Während nun der Text zum Buch als Distributionsmedium drängt, das Filmische zum Screening, die Bilder, Spuren und Konzepte zur Ausstellung, ist das Element der Netztheatralität das ureigentliche Element des World Wide Webs und eben nicht in ein anderes Medium zu transferieren und damit ist es Medientheater im ureigenen Sinne. Genauso wie der Schauspieler im Raum und in Anwesenheit dem Transitorischen verpflichtet ist d.h. dass die Kunst des Schauspielers im Augenblick des Erschaffenwerdens vergeht, so ist die Netzperformance eine transitorische Kunst. Die Möglichkeit des Web.2.0, dem User die Möglichkeiten zum Ausdruck zu geben, bedeutet auf der Ebene der Internetnarrration, immer einen Rückkanal zu realisieren, der von Automatismen (log ins, automatischer E-Mail, Formularen etc.) über Moderation zum tatsächlichen Dialog, beispielsweise im Chat, in Foren oder in E-Mails, führen kann, doch die eigentlich freie und nicht mehr ganz zu kontrollierende Netzperformance beginnt dort, wo sich die lancierten Narrationen in unterschiedlichen Medien und Formaten fortschreiben. => http://fade-to-black.styx.org/ => http://www.webchannel-one.com/malaria7/?page_id=71 *[2]* Fiktive Künstler oder Autoren sind von Künstlern oder Autoren erfundene Künstler oder Autoren. Projekte mit fiktiven Künstlern und Autoren zeichnen sich dadurch aus, dass zwei Dinge, die im „realen" Künstler oder Autor zwangsvereint werden, nämlich die Person, die die Kunst oder den Text produziert, und die Person, die den Künstler oder Autor spielt, sich glücklich scheiden. Jeder, der jemals als Künstler oder Autor in der Öffentlichkeit stand, wird diese innere Gespaltenheit zwischen dem, der tatsächlich etwas erschafft, und demjenigen, der nun diesen Schöpfer spielen soll, empfunden haben. => http://www.mail-archive.com/rohrpost@mikrolisten.de/msg01287.html => http://www.formatlabor.net/lara/ Medientheater das Buch: (in dem dieser Text wiederum eine Fussnote sein wird) http://ssl.einsnull.com/paymate/search.php?vid=5&aid=1888 -- http://www.formatlabor.net/blog/ http://del.icio.us/formatlabor.net -- http://www.formatlabor.net/blog http://www.formatlabor.net http://www.tnvh.de
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