TELEPOLIS
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36823/1.html

"Die Reichen sind die wahren Sozialschmarotzer"

Gespräch mit Kathrin Hartmann über Hartz IV, Super-Gentrifizierung und die 
Politik der Tafeln

Reinhard Jellen 02.05.2012?

Die zunehmende Rücknahme der zivilisatorischen Elemente in der ausgereiften 
bürgerlichen Gesellschaft schildert Kathrin Hartmann [1] in ihrem Buch Wir 
müssen leider draussen bleiben [2]. Ein Gespräch mit der Autorin.

"Entsolidarisierung"

Telepolis: Ihr Buch handelt einerseits von der umfassenden Dehumanisierung der 
Gesellschaft: Die Menschen müssen sich immer mehr den Erfordernissen der 
Wirtschaft unterordnen, werden also zunehmend auf den homo oeconomicus 
reduziert und der Großteil der Leute auf ihre ökonomische Teilfunktion als 
Arbeitskraft und also Profit-Quelle für das Wirtschaftswachstum degradiert. 
Fällt man aus diesem Prozess heraus, kommen nach kurzer Zeit massive soziale 
Ausschließungsmechanismen zum Tragen. Andererseits beschäftigen Sie sich mit 
der Durchsetzung des bürgerlichen Menschen- und Weltbildes in sämtliche 
gesellschaftliche Bereiche: Elitenbildung, den Neoliberalismus in der Politik, 
Gentrifizierung et cetera. Wie hängen diese beiden thematischen Komplexe 
zusammen?

Kathrin Hartmann: Sie bedingen einander. Beides ist Ergebnis einer jahrelangen 
neoliberalen Politik, deren Opfer in irgendeiner Form wir alle sind. Sogar die 
Oberschicht, auch wenn sie dies nicht glauben mag.

Telepolis: Inwiefern?

Kathrin Hartmann: Der Neoliberalismus ist uns als Chance, als Gelegenheit für 
mehr Eigenverantwortung verkauft worden, stellt aber in Wahrheit eine 
Kampfansage dar: Die Menschen wurden zu Konkurrenten gemacht und in den 
Wettbewerb geschickt. In diesem Wettbewerb gibt es Gewinner und Verlierer. Und 
da gibt es glasklar ökonomische Verlierer, die neuen Armen und 
Langzeitarbeitslosen.

Die Oberschicht wiederum leidet an Status-Panik. Auch unter den Reichen gibt 
es nämlich einen Wettbewerb um die Zugehörigkeit zu ihrem exklusiven Club. 
Also selbst unter denen, die materiell ausgesorgt haben, ist es keineswegs so, 
dass sie glücklich sind. Dazwischen gibt es die Mittelschicht, die zunehmend 
vom Abstieg bedroht ist und aus diesem Grund immer ängstlicher wird. Doch 
anstatt sich mit den Krisenopfern zu solidarisieren, tritt die Mittelschicht 
nach unten und orientiert sich nach oben. Dies aus der völlig irrigen Annahme, 
dass sie eher zur Elite gehört, von denen sie sehr viel mehr Geld und Besitz 
trennt als von der Unterschicht.

Je kleiner die gesellschaftlichen Unterschiede, umso größer das Bedürfnis, 
sich nach unten abzugrenzen. Das ist natürlich fatal, denn damit unterstützt 
die Mittelschicht alle politische Entscheidungen, die ihr selbst schaden. 
Tatsächlich ist durch diesen Wettbewerb eine Entsolidarisierung entstanden, 
die durch die ganze Gesellschaft geht.

"Super-Gentrifizierung"

Telepolis: Wo zeigt sich diese Entwicklung besonders augenfällig?

Kathrin Hartmann: Ein Beispiel ist etwa die Gentrifizierung. Das Wort ist zwar 
schon ziemlich abgenutzt, weil das in den Medien fast nur noch als 
Lifestyle-Krieg der Latte-Macchiatto-Trinker und Bugaboo-Mütter belächelt 
wird. Tatsächlich steckt dahinter eine von Wirtschaft und Politik betriebene 
Aufwertungsstrategie einzelner Stadtviertel: Die Kommunen haben kein Geld mehr 
für soziale Stadtgestaltung und setzen deswegen einfach darauf, dass sich die 
ökonomischen Aufwertungsprozesse ausweiten.

Die nächste Stufe, die man zur Zeit in Berlin gut beobachten kann, ist nach 
der Gentrifizierung die Super-Gentrifizierung, in der die Mittelschicht von 
den richtig Reichen verdrängt wird, die dann in ihren Reichenenklaven mitten 
in der Innenstadt unter sich bleiben wollen. Die Armen werden aus den Vierteln 
vertrieben und es entsteht in der Stadt ein konsum- und investorenfreundliches 
Umfeld, an dem die Wirtschaftselite viel Geld verdient.

Telepolis: Inwiefern profitiert die Wirtschaft von der Armut?

Kathrin Hartmann: In einem Land wie Deutschland ist die Armut kein Schicksal, 
sondern entsteht, weil zuvor die Arbeitnehmerrechte zu Gunsten der 
Wirtschaftselite ausgehöhlt worden sind: Die sozialversicherte Arbeit ist 
zerstört worden und je weniger man für Arbeit bezahlen muss, umso mehr Profit 
wird gemacht. Das alles wird nebenbei von den Steuerzahlern finanziert - etwa 
für Subventionen, Steuererleichterungen und die Zahlung von 
Hartz-IV-Regelsätzen für Berufstätige, die nicht von ihrem Lohn leben können. 
So bezahlen die Arbeitnehmer für den Abbau ihrer eigenen Rechte, damit die 
Shareholder dann alles, was die anderen geleistet und erarbeitet haben unter 
sich aufteilen können.

Telepolis: Welche Rolle spielt in diesem Prozess die Hartz-IV-Gesetzgebung 
[3]?

Kathrin Hartmann: Hartz IV ist nicht einfach nur eine Sozial- und 
Arbeitsmarkt-Reform, sondern auch ein breit angelegtes, explizites 
Diffamierungsprogramm. Es ist damals unter Ausschluss der Öffentlichkeit unter 
der Mithilfe von McKinsey, Daimler, der Bertelsmann-Stiftung et cetera ohne 
jede demokratische Legitimation beschlossen worden. Es wurde im Interesse der 
Wirtschafts-Elite von Anfang an mit einer umfassenden Diskriminierungskampagne 
gegen Arbeitslose durchgesetzt. Man denke etwa an Gerhard Schröders 
"Kein-Recht-Auf-Faulheit"-Rede und an das Wolfgang-Clement-Papier, in dem 
Sozialfälle mit Parasiten verglichen wurden.

Wenn man diese Diskriminierungen nicht explizit wiederholt hätte, wenn es 
nicht von Anfang an einen "Schuldigen" gegeben hätte - nämlich den faulen 
Arbeitslosen, den Sozialschmarotzer, der sich auf unsere Kosten angeblich ein 
schönes Leben macht -, wären diese Reformen vermutlich nicht durchsetzbar 
gewesen. Gerechtigkeit ist durch den Begriff der "Leistungsgerechtigkeit" 
ersetzt worden - heißt, dass nur der Ansprüch hat, der "leistet".

"Die Reichen leben sehr entrückt"

Telepolis: Während gesellschaftlich der Anteil der Arbeit als Quelle des 
Volksvermögens sinkt, nimmt der Anteil aus Kapitalvermögen zu. Letzteres wird 
auch im Vergleich steuerlich begünstigt. Gleichwohl glauben die Reichen, 
ausgerechnet vom Staat und den Armen über den Tisch gezogen zu werden. Haben 
Sie eine Erklärung dafür?

Kathrin Hartmann: Tatsächlich sind es zunehmend die Wohlhabenden, die sich um 
ihren "gerechten" Anteil betrogen fühlen. Ich frage mich, ob die das 
tatsächlich glauben oder ob das nicht nur eine Strategie ist, damit auf keinen 
Fall ihr Reichtum in Frage gestellt wird. Wenn man sich ansieht, was uns die 
Rettung der Banken kostet, von der die Reichen genauso profitieren, weil damit 
auch ihre Einlagen abgesichert wurden, und dazu zählt, wie viel Geld der 
Allgemeinheit durch großzügige Steuergeschenke an Reiche und Unternehmen und 
durch Steueroasen flöten geht, dann kommen schließlich einige hundert 
Milliarden Euro zusammen.

Im Vergleich dazu sind die Kosten für Hartz IV ein Witz. Deshalb ist der 
Sozialschmarotzervorwurf gegen die Armen lächerlich - die Reichen sind die 
wahren Sozialschmarotzer. Anstrengungsloser Wohlstand, wie ihn einmal 
Westerwelle den Armen unterstellte, gibt es nur für die Reichen. Nach der 
Finanzkrise haben die Reichen dieser Welt ihr Vermögen sogar noch um 20 
Prozent steigern können.

Dass diese kein Interesse haben am Pranger zu stehen und ihre Privilegien 
aufzugeben ist doch klar. Andererseits leben die Reichen sehr entrückt von 
dieser Gesellschaft und bleiben unter sich, so dass es schon sein kann, dass 
sie ihrer eigenen Propaganda glauben. Da sie selber in den Kriterien der 
herrschenden Wirtschaftsideologie denken, sind sie wahrscheinlich auch davon 
überzeugt, dass sie "Leistungsträger" wären und dass sie nicht nur ihren 
Reichtum selbst erwirtschaftet haben, sondern dass es außerdem gut für das 
Land ist, wenn sie reich sind.

"Entwertung der Menschen"

Telepolis: Sie haben für Ihr Buch auch in der Unterschicht recherchiert. 
Stimmt das öffentliche Bild von den versoffenen und faulen Hartz-IV-Beziehern?

Kathrin Hartmann: Mir ist dieses Klischee bei meinen Recherchen in 
Sozialkaufhäusern und bei den Tafeln nicht begegnet. Ich habe nur Leute kennen 
gelernt, die arbeiten gehen wollen und von dieser Arbeit leben können möchten. 
Und die alles dafür tun, einen regulären Job zu bekommen. Erfolglos meistens, 
denn von diesen Jobs gibt es ja kaum mehr welche.

Mag sein, dass es diese Phänomene in sogenannten sozialen Brennpunkten gibt, 
aber das, was ich kennen gelernt habe, hat damit nichts zu tun. Außerdem 
verstehe ich nicht, warum man sich ausschließlich über diese Leute empört und 
nicht darüber, dass man sie so sehr ausgrenzt und in eine solche demütigende 
und verzweifelte Situation bringt. Alkoholismus ist eine Krankheit und kein 
Verbrechen.

Natürlich gibt es eine Menge Leute, die unter Depressionen leiden, und 
bestimmt einige, die alkoholkrank sind. Aber dass man ihnen das als Laster zum 
Vorwurf macht und dabei bereits biologistisch argumentiert, ihnen also 
unterstellt, es läge in ihrer verkommenen Natur, das wenige Geld, das sie vom 
Staat bekommen, zu versaufen, ist eine Frechheit und stellt auch eine 
Entwertung dieser Menschen dar.

Telepolis: Sie plädieren dafür, die Armut der Menschen nicht nur anhand der 
ökonomischer Daten zu interpretieren, sondern in ein umfassenderes 
Armutskonzept [4] einzubinden. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Kathrin Hartmann: Ich glaube, dass Armut weltweit ähnliche Ursachen und 
jeweils ein anderes Gesicht hat. Armut ist global zu denken und kann auch 
nicht nur in Zahlen und Daten gefasst werden. Indem man Menschen in 
ökonomische Eckdaten presst, anonymisiert man sie und macht sie passiv. Arm 
sind die Leute nicht nur, weil sie extrem wenig Geld haben, sondern auch weil 
sie in unserer Konsumgesellschaft nicht mehr mithalten können. Sie haben 
nichts mehr zu melden und melden sich tatsächlich nicht mehr, weil sie dann 
permanent mit Vorwürfen und Verachtung konfrontiert werden. Man redet über sie 
und nicht mit ihnen.

Telepolis: Sie sind nach Bangladesch gereist und haben dort existentielle 
Armut gesehen. Wo ist der Unterschied?

Kathrin Hartmann: Ich war für das Buch auch einen Monat in Bangladesch, eine 
der ärmsten Länder der Welt. Ich habe dort festgestellt, dass wir im reichen 
Westen auch von der Armut in armen Ländern eine völlig falsche Vorstellung 
haben. Das sind keine Leute, die darauf warten, dass der weiße Mann ihnen 
einen Brunnen baut. Ich habe dort eine Menge Leute kennen gelernt, die extrem 
aktiv, politisch engagiert sind und die ganz genau wissen, wie sie ihr Leben 
bestreiten wollen.

Das ist der Unterschied zur Armut in Deutschland: Die Leute dort werden für 
ihre Armut nicht verachtet und haben ganz andere Pläne, wie Armut bekämpft 
werden soll. Die Idee der Mikrokredite und auch Social Business, die hier so 
anerkannt sind, stoßen vor Ort bei den Armen auf wenig Begeisterung - im 
Gegenteil leiden sie unter der Ökonomisierung der Armutsbekämpfung. Armut ist 
aber nicht nur materiell: Ich fand teilweise das, was mir arme Leute in 
München erzählt haben, deprimierender als das, was mir von Leuten aus 
Bangladesch berichtet wurde.

"Ein perfides Menschenbild bestimmt Hartz IV"

Telepolis: Wie meinen Sie das?

Kathrin Hartmann: Die Hartz-IV-Bezieher, die ich gesprochen habe, waren von 
morgens bis abends damit beschäftigt, den Befehlen des Amtes [5] Folge zu 
leisten und hatten alle Angst: Ich habe jemanden getroffen, der auf dem Amt 
erzählt hat, dass er anschließend für seine kranke Mutter einkaufen geht. 
Worauf der Mann im Amt sofort konterte: "Was, sie gehen zu ihrer Mutter essen? 
Das müssen wir ihnen dann aber abziehen."

Man ist also auf Schritt und Tritt vom Amt verfolgt, das alles gegen die 
Bezieher auslegt. Die werden regelrecht kriminalisiert, ein perfides 
Menschenbild bestimmt Hartz IV. Also stellt Armut in Deutschland nicht nur den 
Mangel an Geld und an Handlungsmöglichkeiten dar, sondern auch einen Mangel an 
Anerkennung und an Respekt.

Arme werden stigmatisiert. Wenn man hier den Job verliert, das haben viele 
erzählt, dauert es vielleicht ein Jahr und dann hat man die Wohnung verloren, 
hat keine Freunde mehr und ist einfach draußen. Dieses Ausgegrenzt-Sein ist 
der Unterschied zwischen Armut in reichen und armen Ländern, obwohl die 
Ursachen strukturell die gleichen sind. Aber in Bangladesch habe ich 
beobachtet: Sobald die Ökonomisierung zum Beispiel in Gestalt von 
Mikrokrediten ins Spiel kommt, hört die Solidarisierung bald auf. Die 
Ökonomisierung spielt die Leute gegeneinander aus, es schickt sie in einen 
Wettbewerb. Wenn Respekt und Anerkennung an ökonomische Verwertbarkeit 
geknüpft wird, hat das für eine Gesellschaft fatale Folgen.

Telepolis: Der neoliberale Theoretiker Friedrich August von Hayek hat über den 
Kapitalismus, also ein Wirtschaftssystem, das auf Sachzwänge und 
Eigengesetzlichkeiten beruht, gesagt, von diesem Gerechtigkeit zu fordern, 
wäre in etwa so sinnvoll wie der Ruf nach einem gerechten Luftdruck. In der 
öffentlichen Debatte wird jedoch vor allem die Gier der Reichen, Mächtigen und 
Konzerne beklagt. Ist es möglich, dass hier Herr Hayek mehr recht hat als 
Sandra Maischberger?

Kathrin Hartmann: Na klar! Die Forderung, die Wirtschaft sollte selber 
Verantwortung zeigen und die Banker sollen nicht so gierig sein, ist Blödsinn. 
Natürlich bereichern sich Manager auf unsere Kosten, aber wenn die Politik 
diese Form des Wirtschaftens in ein gesetzliches Fundament gegossen hat, kann 
man den einzelnen Banker nicht zum Vorwurf machen, dass er seinen Job 
innerhalb des Systems macht. Das ist völlig lächerlich. Man muss sich doch 
viel eher fragen, warum ausgerechnet die Politiker wie Peer Steinbrück und 
Franz Müntefering, die die Liberalisierung des Finanzmarktes und der 
Wirtschaft vorangetrieben und durchgesetzt haben, von den Heuschrecken und der 
Privatgier reden.

"Ausschluss der Armen aus der Konsumgesellschaft"

Telepolis: Sie üben in Ihrem Buch scharfe Kritik an den Tafeln [6]. Warum?

Kathrin Hartmann: Weil sie das System stabilisieren. Die Tafeln sammeln 
übriggebliebenes Essen von Supermärkten, das sonst weggeschmissen werden 
würde, und verteilen es an die Bedürftigen. Das klingt zwar super, weil es so 
pragmatisch daherkommt: Man nimmt Nahrungsmittel, die ansonsten entsorgt 
würden, und gibt es an Leute, die nichts haben.

Tatsächlich zeigt es aber sehr deutlich den Ausschluss der Armen aus unserer 
Konsumgesellschaft, denn für die Armen bleiben nur noch die sprichwörtlichen 
Brosamen übrig. Und es suggeriert, dass man gegen Armut in diesem Land nichts 
mehr zu machen braucht, weil die Armen über die Tafeln aufgefangen würden.

Zwar sind die Tafeln für die Leute hilfreich, der Skandal aber liegt darin, 
dass es überhaupt solche Tafeln in einem reichen Land wie Deutschland geben 
muss. Sollen Arme im Ernst dankbar dafür sein, dass sie mit Müll abgefüttert 
werden?

"Die gesellschaftlichen Verhältnisse wiederholen sich"

Telepolis: Ich habe auch gehört, dass sich bei den ehrenamtlichen 
Tafelmitarbeitern so etwas wie ein Uschi-Glas-Effekt einstellen würde...

Kathrin Hartmann: Ich habe bei den Tafeln zum ersten Mal die tiefe Kluft 
zwischen Reich und Arm an einem Ort gesehen. Einmal habe ich beobachtet, wie 
eine der Tafelvorderern ganz selbstverständlich mit einem schwarz glänzenden 
Oberklassewagen an der Schlange Bedürftiger vorbei auf den Parkplatz gefahren 
ist, um dann Lebensmittel zu verteilen. Dieses Bild hat mich wirklich 
schockiert. Die gesellschaftlichen Verhältnisse wiederholen sich an der Tafel: 
Es gibt die Reichen, die geben und es gibt die Armen, die nehmen. Das ist wie 
im 19. Jahrhundert.

Dafür wird das Charity-Business von der Politik sogar gelobt und unterstützt, 
was einer Bankrotterklärung gleichkommt. Die Tafeln arbeiten außerdem Hand in 
Hand mit Wirtschaftsunternehmen zusammen, die durch ihre Produktionsweise für 
Armut ursächlich verantwortlich sind. Man nehme zum Beispiel die 
Supermarktketten, die ausschließlich davon profitieren, dass in armen Ländern 
zu entsetzlichen Bedingungen Lebensmittel hergestellt werden: Statistisch 
gesehen werden in der Lebensmittelbranche die zweithäufigsten 
Menschenrechtsverletzungen begangen.

Telepolis: Wie hängt das zusammen?

Kathrin Hartmann: Diese Handelsketten und Lebensmittelkonzerne haben als 
Unterstützer der Tafel-Bewegung alle ein Interesse, dass dieses System so 
bleibt wie es ist, denn der Überschuss bekommt dort einen Sinn. Die Tafeln, 
die anfangs obendrein sogar von McKinsey beraten wurden, verdecken so aber die 
Ursachen der Armut.

Überdies wird an den Tafeln die Armut moralisiert und individualisiert: Denn 
auch dort werden die Armen in gute und unschuldige Arme und die schlechten, 
gierigen Armen aufgeteilt. Hoch in der Gunst der Ehrenamtlichen stehen 
meistens die Alleinerziehenden und die Rentner, also die, welche scheinbar am 
wenigsten für ihre Armut verantwortlich zu machen sind.

Telepolis: Das heißt, die Tafeln sind gar nicht so gerecht, wie man meint?

Kathrin Hartmann: Es hat nicht jeder Arme Zugang zu den Tafeln. Die 
Kapazitäten sind begrenzt. In Deutschland sind rund sieben Millionen Menschen 
von Armut betroffen. Aber nur eine Million hat Zugang zur Tafel. Das heißt, 
deutschlandweit decken die Tafeln weniger als zehn Prozent der Bedürftigen ab.

Außerdem gibt es nur so viele Lebensmittel wie eben gerade da sind - man kann 
sich nicht drauf verlassen, dass die Tüte voll wird. Für die Betroffenen ist 
das schrecklich, denn sie verlassen sich ja auf die Hilfe der Tafel, sie sind 
abhängig davon. Aber Ansprüche stellen kann dort keiner. Auf Almosen gibt es 
keinen Rechtsanspruch.

Telepolis: Also nicht jeder, der arm ist, kann einfach zur Tafel?

Kathrin Hartmann: Nein. Für die Tafeln braucht man einen Berechtigungsausweis, 
den muss man sich dann um den Hals hängen. Man muss zuerst seine Bedürftigkeit 
nachweisen, dann entscheiden die Tafeln, wen sie aufnehmen wollen. Außerdem 
muss man sich abmelden, wenn man einmal nicht kommen kann. Sonst kann man 
seine Zugangsberechtigung verlieren. Das Ganze ist von vorn bis hinten 
demütigend.

Einer meiner Protagonisten hat mir von einem besonders hässlichen Fall an 
einer Tafel in einer mittelgroßen Stadt in Bayern erzählt: Dort hat sein 
Bekannter einmal seine Lebensmittel von der Tafel an Tafel-Nutzer verteilt, 
die nicht so viel abbekommen haben wie er. Daraufhin hat er seine 
Zugangsberechtigung verloren, er ist rausgeworfen worden. Bei den Tafeln ist 
schließlich klar aufgeteilt, wer gibt und wer nimmt.

Links

[1] http://www.randomhouse.de/Autor/Kathrin_Hartmann/p256269.rhd
[2] http://www.randomhouse.de/e380628.rhd
[3] http://www.heise.de/tp/artikel/19/19581/1.html
[4] http://www.heise.de/tp/artikel/7/7368/1.html
[5] http://www.heise.de/tp/artikel/31/31162/1.html
[6] http://www.heise.de/tp/blogs/8/151650




° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °
Ende der weitergeleiteten Nachricht ° Alle Rechte bei den AutorInnen
Unverlangte und doppelte Zusendungen bitten wir zu entschuldigen
Abbestellen: mailto:greenho...@jpberlin.de?subject=unsubscribe

° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °
Greenhouse Infopool Berlin
greenho...@jpberlin.de
www.twitter.com/greenhouse_info
www.freie-radios.net
www.coforum.de


° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °
"Klimaschutz muss als Bewegung von unten kommen."
http://energiewende.wordpress.com
http://klima-der-gerechtigkeit.de
http://klimaschutzvonunten.blogsport.eu




_______________________________________________
Pressemeldungen mailing list
Pressemeldungen@lists.wikimedia.org
https://lists.wikimedia.org/mailman/listinfo/pressemeldungen

Antwort per Email an