(Vorsicht, viel Text) Hallo,
mit zunehmendem Unbehagen beobachte ich die Entwicklung der Diskussions"kultur" dieser Liste. Ich kann jetzt nicht mehr umhin, ein paar Gedanken zu der Situation abzusondern. (Wohlgemerkt: Anmerkungen zum derzeitigen Diskussionsverhalten möchte ich nicht verallgemeinernd verstanden wissen.) Da wird sich gegenseitig runter gemacht, als ginge es um den Listenplatz der Bundestagskandidaten einer Partei. Man kann ja getrost verschiedener Meinung sein, aber muss das denn dazu führen, den anderen in die Nähe der Ecke "dumm und/oder bösartig" zu schicken? Der Sache nützt es überhaupt nichts, wenn ich hier jemandem vor den Kopf schlage. Was nützt es mir? OSM ist eindeutig KEIN Beispiel für gescheiterte Basisdemokratie. OSM war von Beginn (wie in der Open Source-Bewegung üblich) meritokratisch (wer was macht hat die Macht), angereichert mit offenen Meinungsbildungsstrukturen. Ob man Regeln über bestimmte Meinungsbildungsprozesse erstellt oder durch die normative Kraft des Faktischen (siehe Tagwatch), ist egal. Über deren Bestand entscheidet am Ende nur ein Kriterium: Die A K Z E P T A N Z bei der breiten Masse der User. Wir können hier diskutieren oder im Forum und erreichen nur ein schmales Segment der Nutzerpopulation. Wenn eine Diskussion dann tatsächlich ein einvernehmliches Ergebnis hat, wird das in der Regel nicht ausreichend dokumentiert (Verweise auf das Listenarchiv erkenne ich nicht an. Das ist für Leute, die eine schnelle Handreichung brauchen, unzumutbar). Und nun auch noch das: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ' ich einen Arbeitskreis. Und das soll dann so etwas wie ein repräsentativ-demokratisches Gremium sein. Dass das hier funktioniert, kann ich nicht glauben. Seit zwei Jahrzehnten bin ich beruflich in Gremien für technisch-rechtliche Normsetzungen tätig. Da sitzen auch nur Menschen - und es menschelt. Man kann sich wunderbar stundenlang steiten, ob an einer Stelle eines Verordnungsentwurfs ein Komma oder ein Semikolon stehen soll und einigt sich schließlich auf einen Satz mit Doppelpunkt (habe ich genau so erlebt - kein Witz!). Solche Gremien leben von (auch inhaltlichen) Kompromissen. Sie haben aber den Nachteil, dass die große Welt da draußen nicht weiß, wie diese Kompromisse zustande gekommen sind und deshalb verständnislos mit kollektivem Kopfschütteln reagiert. Folge: Erneute heftige Diskussion mit den betroffenen Kreisen. Das alles kann OSM sich schenken. Nun komme ich zu meinem Betreff, weil ich die Zukunft für das Entscheidende halte. Nach meiner Einschätzung hat die überwiegende Mehrheit der OSM-Beteiligten große gemeinsame Ziele. Es geht um die freie Weltkarte. Mit "Weltkarte" meine ich den ganzen Komplex von den geobezogenen Daten bis zu deren Anwendung. "Frei" ist noch genauer zu beschreiben, richtet sich aber sowohl an die Nutzer der Weltkarte, als auch an alle, die zur Weltkarte beitragen wollen. Höre ich den Einwand "nichts Neues"? Na hoffentlich! Es geht mir um Selbstverständliches - um das Selbstverständnis dieser Gemeinschaft, denn scheinbar kommt dieses Wissen im Eifer der Diskussion manchmal dem Bewusstsein abhanden. Die Auseinandersetzungen gehen aber zumeist um die Wege zum Ziel. Warum so heftig streiten? Geht es um die Meinungsführerschaft? Sind wir in der Situation von z.B. innerchristlichen Religionskriegen? Ich möchte davon ausgehen, dass hier in OSM die Kontrahenten ernsthaft auf der Suche nach den besten Verfahren sind. Schade, wenn die eigene Lösung in Gesetzesrang erhoben werden soll und dabei gegenseitige Achtung, Duldsamkeit und die die Fähigkeit zur Anerkennung eigener Irrtumsmöglichkeit und fremder gleichwertiger oder gar besserer Lösungen verloren gehen. Da braucht es einen besseren Umgang miteinander. Meiner Ansicht nach brauchen wir (weiterhin) Regeln. "Verbindliche" Regeln in OSM kann ich mir nicht vorstellen, sondern nur welche im Sinne DIN und anderer: "Diese Regeln bilden den Stand der Technik ab. Wenn du sie anwendest, bist du auf der sicheren Seite und keiner tritt dir in die Kniekehlen. Du kannst auch abweichen, musst dann aber mit Nachfragen rechnen und darfst nicht damit rechnen, dass Anwendungen (z.B. Renderer) deine Daten auswerten." Alternative: Strenge Regeln mit Strafandrohung. Dann wären die Sittenwächter bald unter sich. Wie können die Regeln entstehen? Nun, sooo schlecht ist das derzeitige Verfahren nicht, wenn auch sicher verbesserungswürdig. Nicht OSM kaputtreden, sondern erste kleine Schritte zur Verbessserung machen. Beispielsweise: Keine Diskussion über How-To ohne Niederlegung des Ergebnisses im Wiki. Das bedeutet aber auch es entsprechend zu dokumentieren, wenn es keine Einigung gab. Und bevor man nach (scheindemokratisch legitimierten) hierarchischen Strukturen ruft, sollte man mal ein paar Monate etwas intensiver bei de.wikipedia.org mittun. Diese Strukturen sorgen nicht für weniger Streit, sondern schaffen zusätzliche Anlässe. Und sie schaffen zusätzliche Institutionen zur Behandlung von Machtmissbrauchsvorwürfen und ähnlichen Konflikten zwischen den Ebenen. (Wie das läuft, konnte man ja schon anlässlich der Lizenzumstellungsdiskussion ansatzweise beobachten.) Auch das sollte OSM vermeiden. Auf der Seite der Datengewinnung und -pflege muss der Gelegenheitsmapper, der sein lokales Wissen einbringen möchte, genau so gut Zugang finden können, wie der Profi, der hochspezialisierte Daten spenden kann. Die Aufgabe ist nicht gerade trivial! Jede Regelsetzung muss sich m.E. daran orientieren. Ich bin sicher, dass wir das mit neuen Strukturen, die auch erst einmal eingerichtet und arbeitsfähig werden müssen, nicht besser schaffen können. Aber vielleicht haben die Unternehmensberater unter uns ein paar Tipps, wie wir besser werden können, ohne gleich alles über Bord zu kippen. Gruß nk _______________________________________________ Talk-de mailing list Talk-de@openstreetmap.org http://lists.openstreetmap.org/listinfo/talk-de