The Wall Street Journal
http://www.wsj.de/article/SB10001424052702304561004579137432187194284.html

Samstag, 19. Oktober 2013, 17:20 Uhr

So teuer ist umweltfreundlicher Kohlestrom

Das "Saubere-Kohle"-Kraftwerk Kemper County soll Vorzeigeprojekt für die
Produktion von sauberem Strom aus Kohle sein. Doch bislang kostet es nur
hunderte Millionen von Dollar - ohne Strom zu liefern

Von REBECCA SMITH und CAMERON MCWHIRTER

DE KALB, Mississipi - Jahrzehntelang hat die US-Regierung für
umweltfreundliche Kohlekraftwerke geworben, ihnen eine glorreiche Zukunft
vorhergesagt. Reist man allerdings nach Mississippi, in eine ländliche
Gegend im östlichen Teil des Bundesstaates, sieht die Realität der so
genannten sauberen Kohle alles andere als wunderbar aus. Auch in Deutschland
wird das Thema saubere Kohle diskutiert.

Das Kemper County Kraftwerk von der Stromgesellschaft Mississippi Power
sollte eigentlich ein Vorzeigeprojekt für die Produktion von sauberem Strom
aus Braunkohle sein.

Zur umweltfreundlichen Gewinnung von Strom aus Kohle gibt es ganz
unterschiedliche Verfahren. Dabei gilt es, das Treibhausgas CO2 aus den
Abgasen eines Kohlekraftwerks zu bekommen. Das Problem: Bei der Produktion
fallen oftmals Nebenprodukte an, die alles andere als umweltfreundlich sind.

RWE experimentiert mit CO2-Wäsche

Auch in Deutschland wird das Thema saubere Kohle diskutiert. Der
Energiekonzern RWE etwa testet in seinem Innovationszentrum in Niederaußem
ein Verfahren zur Entfernung von CO2. Gemeinsam mit Partnern suche der
Versorger nach effizienten Methoden für die sogenannte CO2-Wäsche, sagte ein
Sprecher. RWE hat auch schon darüber nachgedacht, das in den USA verwendete
Vergasungsverfahren [1] einzusetzen, das Projekt aber zurückgestellt, sagte
der Sprecher. Der Grund: Es ist bislang offen, wo in Deutschland das
abgetrennte Treibhausgas gelagert werden kann.

Zudem dürfte der Kostenfaktor abschreckend wirken: Das Kemper-Kraftwerk gilt
in den USA bereits jetzt als eines der teuersten Projekte aller Zeiten zur
Gewinnung von Energie aus fossilen Brennstoffen. Derzeit belaufen sich die
Kosten auf 4,7 Milliarden Dollar - und sie dürften weiter steigen. Das
belastet die 186.000 Kunden von Mississippi Power, die in einer der ärmsten
Regionen des Bundesstaates zu Hause sind: ihr Strom verteuert sich im
zweistelligen Prozentbereich. Sogar der Mutterkonzern von Kemper, die in
Atlanta ansässige Southern Co., rät davon ab, dass Kemper als Modell für
weitere Kraftwerke in den USA dienen sollte.

Kemper-Kohlekraftwerk verschlingt Millionen - und hat noch keinen Strom
geliefert

Derweil hat die Fabrik selbst noch keine einzige Kilowattstunde Strom für
Kunden geliefert. Es ist zudem offen, wie gut der komplexe Vorgang des
Energiegewinns überhaupt funktionieren wird. Das Unternehmen wird 133
Millionen US-Dollar an Steuergutschriften des Bundes verfallen lassen
müssen, da es das Projekt nicht bis zur angesetzten Frist im Mai
fertigstellen könne, gab das Kemper-County-Kraftwerk in diesem Monat
bekannt.

Kemper ist eines von gerade einmal drei Kraftwerken, die in den USA auf dem
Prinzip der sauberen Kohle aufbauen wollen. Und das Projekt ist für seine
Mutter Southern eine solche Katastrophe, dass die Stromindustrie und
Analysten an der Wall Street der Meinung sind, dass andere Versorger kaum
ein ähnliches Projekt starten werden, auch wenn die US-Bundesregierung mit
finanziellen Anreizen lockt.

Southern hat vor kurzem 990 Millionen US-Dollar an Abschreibungen für
Kostenüberschreitungen vorgenommen, die bald die 2-Milliarden-Dollar-Marke
erreichen. Die Aktie des Unternehmens aus Atlanta geriet bereits im
vergangenen Jahr unter Beschuss, und der Marktwert der Firma ist seit April
um 6,4 Milliarden Dollar auf 35,8 Milliarden Dollar gesunken. Die
Kreditwürdigkeit von Mississippi Power ist gesunken und liegt nun gerade
einmal drei Stufen über Junk-Status. Kemper „vergrault die Menschen", sagt
Michael Haggarty, Analyst bei Moody's Investors Service in New York.

Die Kosten für die „saubere Kohle" in den USA sehen noch schlechter aus,
wenn man sie mit einer neuen billigen Alternative vergleicht: Kraftwerke,
die mit dem Gas angetrieben werden, das durch das boomende
Fracking-Verfahren gewonnen wird. Im vergangenen Jahr entschied sich
Southern gegen den Kauf eines zehn Jahre alten Gaskraftwerks in Jackson, das
so viel Energie wie Kemper produziert hätte. Ein anderes Unternehmen kaufte
es für 206 Millionen Dollar - Milliarden an Dollar weniger, als das
Kemper-Kraftwerk kosten wird.

Das Kraftwerk mit 582 Megawatt Leistung auf der grünen Wiese soll Braunkohle
in sauber verbrennendes Synthesegas verwandeln, das ähnliche Eigenschaften
wie natürliches Gas hat. Als Teil des Prozesses werden 65 Prozent des
Treibhausgases CO2 ausgelöst und eingekapselt. Normalerweise würde dieses
Gas durch die Verbrennung von Kohle in die Atmosphäre gelangen. Die
Verwandlung von Kohle in Gas vor der Verbrennung, auch Vergasung genannt,
hat sich als notwendig erwiesen, um das CO2 einzufangen. Andere Verfahren,
um es bei der Verbrennung von Kohle abzufangen, haben sich als unpraktikabel
erwiesen.

Der Abbau der CO2-Emissionen in den Vereinigten Staaten ist ein Ziel der
Obama-Regierung. Im vergangenen Monat hat die Regierung neue Begrenzungen
für den Ausstoß von CO2 bei neuen Kraftwerken eingeführt. Kemper wurde dabei
als Beweis zitiert, dass Meiler den neuen Standards gewachsen sein könnten.
"Wir sind zuversichtlich, dass die Kraftwerke der Zukunft mit dieser
Technologie gebaut werden", sagt Janet McCabe, Verwaltungsreferendarin bei
der US-Umweltbundesbehörde Environmental Protection Agency. Die von der
Regierung vorgegebenen Schadstoffbelastungsgrenzen seien „praktikabel und
umsetzbar".

Der Betreiber des Kemper-Kohlemeilers, Southern, sieht das etwas
differenzierter. Der Regierungsplan zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes „ist
günstig für diese Technologie", sagt Ed Holland, Chef von Mississippi Power.
Sie sei zwar teuer, aber „eine der wenigen verfügbaren Alternativen, die uns
weiterhin die Nutzung von Kohle ermöglichen."

Aber Southern sagte im vergangenen Monat auch, dass Kemper „nicht gänzlich
auf das gesamte Land verallgemeinert werden kann" und deshalb „nicht als
Grundlage für neue Emissionsstandards dienen sollte." Angestellte der
Regierung sagen, es sei nicht ungewöhnlich, dass neue Technologien zunächst
viel Geld kosten. Die Kosten für saubere Kohle dürften ihrer Meinung nach
mit der Zeit niedriger ausfallen.

Die US-Regierung hat über diverse Subventionen bereits annähernd 700
Millionen Dollar in den Kohlemeiler von Mississippi gesteckt - auch wenn man
davon die 133 Millionen Dollar an verlorenen Steuergutschriften abziehen
kann, bereits ein hoher Betrag. Seit Jahrzehnten pumpt das
Energieministerium Milliarden an Dollar in die Forschung und Entwicklung zur
sauberen Kohle. Manches Mal arbeitet man dabei auch mit dem Testlabor für
neue Technologien von Southern zusammen.

Nachdem zwei Projekte in den 1990ern wegen technischer Probleme hunderte
Millionen Dollar verschlungen hatten, wollte Southern 2005 in Florida einen
Kohlemeiler mit dem neuen Verfahren bauen. Doch das Unternehmen sagte 2007
das Projekt ab, weil sich einige Vertreter des Bundesstaates gegen Kohle
ausgesprochen hatten.

In Mississippi hingegen begrüßte man zwei Jahre später das Projekt Kemper.
Der damalige Gouverneur Haley Barbour, ein Republikaner, freut sich, dass
die Fabrik große Vorräte an Braunkohle verbraucht, „die praktisch keinen
Wert hat", sagt er heute. Er unterstützt das Projekt immer noch. Sein
PR-Unternehmen arbeitet für Southern.

Angst vor einem Anstieg des Gaspreises

Die Kommission für den öffentlichen Dienst in Mississippi, die Mississippi
Public Service Commission, stimmte dem Projekt zu - man hatte damals Angst,
dass der Gaspreis steigen könnte, sagt Leonard Bentz, bis vergangenen August
Mitglied der Kommission. In der Region gibt es viele Gaskraftwerke.

Die Stromgesellschaft Mississippi Power teilte der Kommission 2009 mit, dass
die Kosten für Erdgas auf bis zu 20 Dollar je einer Million britischer
thermischer Einheit (BTU) steigen könnten und zwischen 2014 und 2054 nicht
unter 7,38 Dollar je einer Million BTU fallen würde. Diese Prognose war
vertraulich und nicht öffentlich einsehbar. Das Wall Street Journal hat nach
einer Anfrage unter Berufung des Informationsfreiheitsgesetzes des
Bundesstaates eine überarbeitete Kopie von dem Versorger erhalten.

Diese Prognose wurde aber abgegeben, nachdem Energieunternehmen bereits
entdeckt hatten, dass man Gas aus vorher unzugänglichen
Schiefer-Felsformationen lösen kann. Die aus dem Fracking-Boom resultierende
Gasschwemme ließ den Preis seit Januar 2009 nicht mehr über 6 Dollar je
Million BTU steigen. Derzeit liegt der Gaspreis bei rund 3,75 Dollar.

Die Prognosen seien aus heutiger Sicht natürlich falsch, sagt Jeff Burleson,
Vizepräsident im Bereich Systemplanung bei Southern. Das liege daran, dass
sich die Industrie 2009 „im Übergang vom konventionellen zum Schiefergas"
befunden habe.

Das Unternehmen erhielt im Juni 2010 die staatliche Genehmigung, um das
Projekt voranzutreiben. Die Kosten für das Kemper-Kraftwerk wurden auf rund
2,9 Milliarden Dollar taxiert. Schon bald explodierten sie jedoch. Man habe
die Arbeitskosten überschätzt, sagt das Unternehmen, ebenso die Menge an
Stahlrohren, Beton und anderen Baumaterialien, die man für eine so große
Fabrik benötige.

Weil der Bundesstaat Southern erlaubt hatte, die Kosten für den Meiler auf
die Kunden umzulegen, bevor das Kraftwerk überhaupt mit der Produktion von
Strom beginnt, begannen die Strompreise zu steigen - allein in diesem Jahr
sprangen die Gebühren um 15 Prozent nach oben. Fürs nächste Jahr ist ein
Anstieg von 3 Prozent angesetzt, obwohl das Unternehmen gerne um 7 Prozent
erhöhen würde.

Ungewöhnliche Allianz gegen Kemper

Die Angst davor, dass die Wettbewerbsfähigkeit von Mississippi unter den
steigenden Stromkosten leiden könnte, schafft ungewöhnliche Allianzen:
Umweltgruppen, Aktivisten der ultraliberalen Tea Party und einige
Wirtschaftsgrößen der Region kritisieren das Projekt zunehmend lauter.

Der Landesverband der Umweltgruppe Sierra Club versuchte, den Bau des
Strommeilers zu verhindern. Die öffentliche Meinung ändere sich so langsam
zu ihren Gunsten, sagt Louie Miller, Vorsitzende des Verbands. "Als der Bau
damals verkündet wurde, galt das Kraftwerk als größte Errungenschaft seit
Erfindung des Rads", sagt sie. „Jetzt ist jeder dagegen."

Im Januar einigten sich die Regulierungsbehörden und Southern für eine
Deckelung der Kosten für die Stromkunden bei 2,88 Milliarden Dollar. Das
liegt weit unter den prognostizierten wahrscheinlichen Kosten von 4,7
Milliarden Dollar. Doch Southern erhielt kürzlich der Erlaubnis der
Staatsregierung, bis zu eine Milliarden Dollar an Anleihen zu emittieren, um
rund die Hälfte des noch offenen Betrags zu decken. Auch das trifft den
Geldbeutel der Stromkunden: Sie werden die Anleihen durch einen Aufpreis auf
den Rechnungen bezahlen.

„Wir wollten keine Mehrkosten, aber wir glauben, wir sind gerecht zu den
Kunden", sagt die Sprecherin des Stromkonzerns, Christy Ihrig. Die
Zusatzkosten würden zwischen Kunden und Aktionären aufgeteilt.

Die Kunden sehen das etwas anders. Seine Kunst- und Schmuckgalerie habe sich
von der Rezession noch nicht erholt, sagt Neubern Atkinson, der etwas
südlich von Kemper County wohnt. „Ich gehe bereits auf dem Zahnfleisch",
sagt der 66-Jährige. „Und das hier könnte der entscheidende Faktor sein, ob
ich meinen Laden schließen muss odern nicht."

Die Einwohner von Mississippi, die das Kraftwerk noch unterstützen, leben
alle in und um De Kalb. Der Ort profitiert von den Bauarbeitern, die in De
Kalb wohnen und einkaufen. Auf der Baustelle drehen sich fast rund um die
Uhr die Kräne. An sechs Tagen in der Woche hämmert und klopft es, das
Geräusch der an- und abfahrenden Trucks mit Material schallt in den
niedrigen Hügeln weit.

„Das County profitiert jahrelang" von den Einnahmen, sagt Faye Wilson,
Direktor der Handelskammer des Kemper County.

Einige Anwohner haben einen anderen Grund für ihren Enthusiasmus: Sie müssen
für das Kraftwerk nicht zahlen. Viele Einwohner des Bezirks von Kemper
erhalten ihren Strom von der staatlichen Tennessee Valley Authority. Diese
verlangt so wenig für ihren Strom wie wenige andere in den USA.

Mitarbeit: Hendrik Varnholt

[1] http://tinyurl.com/njt44vm 




° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° 
Ende der weitergeleiteten Nachricht ° Alle Rechte bei den AutorInnen 
Unverlangte und doppelte Zusendungen bitten wir zu entschuldigen 
Abbestellen: mailto:greenho...@jpberlin.de?subject=unsubscribe 


° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° 
Greenhouse Infopool baut um! 
Wir sind jetzt vor allem hier: 

Twitter: 
http://twitter.com/greenhouse_info 

RSS-Feed: 
http://tinyurl.com/greenhouse-feed

Facebook (Beta): 
http://www.facebook.com/mika.latuschek 

Twitter-News per E-Mail erhalten:
https://listen.jpberlin.de/mailman/listinfo/greenhouse-info



_______________________________________________
Pressemeldungen mailing list
Pressemeldungen@lists.wikimedia.org
https://lists.wikimedia.org/mailman/listinfo/pressemeldungen

Antwort per Email an