Frankfurter Rundschau
http://www.fr-online.de/politik/1472596,11601266.html

Politik - 9 | 2 | 2012

Zukunftsdialog

Merkel sammelt Ideen im Internet

Kanzlerin Merkel übt den Dialog mit der Netzgemeinde. Doch ihr Forum 
"Zukunftsdialog" wird zur Farce: Die meisten Vorschläge kommen von Piraten, 
Kiffern, Waffennarren und Islamfeinden

Von Daniela Vates

Schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate hat das Bundespresseamt der 
Kanzlerin eine Themenfindung via Internet verordnet. Das kann man verstehen, 
ist Angela Merkel doch mit Griechenland und dem Euro beschäftigt und ihre 
Minister versuchen, nicht durch Ideen aufzufallen. Die CSU schreit derweil 
immer nur: Betreuungsgeld. Und die FDP seit neuestem: Wachstum. Damit kommt 
man nicht wirklich sehr viel weiter.

Also soll die Netzgemeinde liefern. Im November gab es schon einmal drei 
Wochen, in denen die Regierung online Fragen an die Kanzlerin sammeln ließ. 
Die nach der Legalisierung von Cannabis bekam damals die meisten Unterstützer, 
respektive Klicks. Merkel beschied, das gehe leider nicht.

Die zweite Runde der Bürgerbefragung wurde vergangene Woche eingeläutet. 
Zukunftsdialog heißt die Sache dieses Mal und sie läuft noch bis Ostern 
(www.dialog-ueber-deutschland.de).

Nun ist es die Kanzlerin, die Fragen stellt. Drei Fragen: Wie wollen wir 
zusammenleben? Wovon wollen wir leben? Wie wollen wir lernen?

Am aktivsten sind die Islamkritiker

Rund 4.000 Antworten liefen bis Donnerstagnachmittag ein, sie können von allen 
Besuchern der Website per Mausklick in eine Rangfolge gebracht werden. Am 
aktivsten sind die Islamkritiker. Die Beschwerde, sie würden öffentlich 
ignoriert bis diffamiert, steht mit über 20 000 Befürwortern an erster Stelle. 
Auch Deutschlands Sportschützen fühlen sich ungerecht behandelt und kommen mit 
ihrer Klage über das "völlig überzogene deutsche Waffen- und Sprengstoffrecht" 
auf Platz 4. Die Zensur-Vorwürfe gegen das Urheberrechts-Abkommen Acta, gegen 
das vor allem Jüngere und Internet-Gemeinden weltweit Sturm laufen, haben 
Platz 3 erreicht. Ganz oben dabei ist auch wieder die Forderung nach der 
Legalisierung von Cannabis.

Merkel sucht sich aus, was sie umsetzt

Das heißt noch nicht, dass es damit auch etwas wird. Angela Merkel hat sich 
gestern auf der Website per Interview zu Wort gemeldet und darin gesagt: "Wir 
suchen uns aus, was wir umsetzen können." Allerdings könne es durchaus sein, 
dass wir "etwas tun, was wir bisher nicht wollten". Das Ranking im Netz ist 
vor allem auch für die interessant, die schon immer mal ins Kanzleramt 
wollten: Die Verfasser der zehn im Netz am besten bewerteten Vorschläge 
bekommen einen gemeinsamen Termin mit der Kanzlerin.

Die behält sich vor, auch selber noch ein bisschen in den Netzvorschlägen zu 
kramen. Außerdem assistieren ihr 120 Experten. Und auch auf drei Bürgerforen 
in ganz realen Veranstaltungshallen sollen Vorschläge gemacht werden können.

Wahlkampf-Vorwürfe gegen Merkel

Wahlkampfvorbereitung mit Regierungsgeld hat die SPD Merkel deshalb 
vorgeworfen. Die findet das "ein bisschen kleinteilig". Sie habe doch einen 
Amtseid geschworen, das Beste für Deutschland zu machen. "Da kann ich den 
Bürger schon mal fragen", was denn das Beste sei, findet sie. Mehrere 100.000 
Euro koste die Aktion. "Das Geld ist gut eingesetzt", sagt Merkel. 
Anzeigenkampagnen in Zeitungen seien deutlich teurer.

Für das Interview hat das Presseamt Merkel in die Bibliothek des Kanzleramts 
gesetzt. Ein altmodischer Ort. Bücher allerdings waren nicht zu sehen. Merkel 
saß vor dem Fenster.

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Jacob Jung Blog
http://jacobjung.wordpress.com/2012/02/04/mitbestimmung-oder-mogelpackung

Mitbestimmung oder Mogelpackung: Merkels Zukunftsdialog

4.2.2012 - Vor wenigen Tagen hat die Bundesregierung mit dem "Zukunftsdialog" 
eine neue Plattform im Internet eröffnet. Hier ruft Kanzlerin Angela Merkel 
die Bürger dazu auf, ihre Vorstellungen von Deutschland in fünf bis zehn 
Jahren einzubringen. Dazu gibt sie drei Fragestellungen vor, zu denen sich die 
Teilnehmer mit ihren eigenen Vorschlägen äußern sollen.

Handelt es sich bei dem "Zukunftsdialog" tatsächlich um ein modernes 
Instrument der demokratischen Mitbestimmung oder will die Bundesregierung 
unzufriedenen Bürgern lediglich ein Ventil für Unmut und Empörung liefern und 
läutet gleichzeitig den Unions-Wahlkampf für 2013 ein?

Dialog über Deutschlands Zukunft

Interaktive Beteiligungsmodelle per Internet sind nicht erst angesagt, seit 
die Piraten in den Berliner Senat eingezogen sind. Ãœberall im Netz wird 
abgestimmt, bewertet und kommentiert was das Zeug hält. Passend zum Trend 
bietet die Bundesregierung um Kanzlerin Merkel mit dem sogenannten 
"Zukunftsdialog" [1] eine Plattform an, auf der sich Bürger aktiv an der 
politischen Planung der nächsten fünf bis zehn Jahre in Deutschland beteiligen 
sollen.

Der öffentliche sichtbare Internet-Auftritt ist dabei nur ein Teil des Dialogs 
über Deutschlands Zukunft. Merkel erläutert im Rahmen einer Video-Einführung, 
dass sie bereits seit einigen Monaten mit mehr als 100 Experten darüber im 
Gespräch ist, wie die Zukunft unseres Landes gestaltet werden soll. Jetzt 
sollen auch die Bürger in Dialog einbezogen werden. Merkel lädt dazu ein, 
eigene Vorschläge einzubringen, andere Vorschläge zu kommentieren und zu 
bewerten.

Zu Ostern endet die Aktion. Dann sollen die zehn Beiträge mit der größten 
Zustimmung ausgewählt werden. Deren Verfasser wird Angela Merkel in das 
Kanzleramt zur Diskussion einladen. Im Anschluss werden die Vorschläge aus dem 
Web den bereits erwähnten Experten zur Beurteilung vorgelegt. Im August will 
die Kanzlerin dann die Ideen vorstellen, "die wir auch umsetzen wollen".

Für die Teilnahme am Zukunftsdialog gelten einige Regeln. So muss man sich mit 
seiner E-Mail-Adresse auf der Internetseite registrieren, bevor man selber 
eine Idee einreichen kann. Die Bewertung anderer Beiträge ist dagegen auch 
ohne Registrierung möglich. Die Kanzlerin wünscht sich von den Teilnehmern 
"keine philosophischen Abhandlungen", sondern "umsetzbare Vorschläge". Da für 
eigene Beiträge ohnehin nur 1500 Zeichen zur Verfügung stehen, dies entspricht 
rund 180 Wörtern, muss man sich hier ohnehin kurz fassen.

Auch thematisch gibt es einige Vorgaben seitens der Bundesregierung. Als 
Teilnehmer soll man sich mit seinen Vorschlägen an eine von insgesamt drei 
vorgegebenen Fragestellungen halten:

* Wie wollen wir zusammenleben?
* Wovon wollen wir leben?
* Wie wollen wir lernen?

Wer sich mit einem Vorschlag einbringen will, der nicht zu einer der drei 
Kategorien passt, der muss sich wohl bis zum nächsten Zukunftsdialog gedulden 
und auf bessere Fragen hoffen. Bis dahin sorgt die redaktionelle Betreuung des 
Portals, das jeden Beitrag und jeden Kommentar vor seiner Freischaltung 
manuell überprüft, für regelkonforme Postings.

Resonanz und Manipulation

Bisher sind insgesamt 2.071 Vorschläge eingegangene. 1.123 Diskutanten 
engagierten sich dabei im Bereich "Wie wollen wir zusammenleben?", 580 zum 
Thema "Wovon wollen wir leben?" und 368 beim vorläufigen Stiefkind "Wie wollen 
wir lernen?".

Unmittelbar nach dem Start hatte die Dialog-Plattform der Bundesregierung mit 
einem Manipulations-Problem zu kämpfen. Ein Vorschlag mit dem Titel 
"OpenSource statt schlechter Software" erhielt hier innerhalb von nur zwei 
Stunden mehrere Tausend Stimmen. Eine solch starke Bürgerbeteiligung war den 
Verantwortlichen der Bundesregierung dann doch unheimlich und man witterte 
unlautere Methoden. In der Folge wurden die abgegebenen Votes kurzerhand auf 
null zurück gesetzt.

Ein Blog-Artikel auf dem Portal bittet die Anhänger der Idee, erneut für ihren 
Favoriten abzustimmen. Seitdem muss man bei der Abstimmung für eine Idee eine 
zufällige Zeichenfolge, ein sogenanntes Captcha, eingeben. Damit werden zwar 
die Anforderungen an Programme, die auf der Plattform automatisch mehrfach 
abstimmen können, erhöht. Manipulierbar ist das Voting aber nach wie vor, da 
man, sobald man jeweils das entsprechende Cookie der Internetseite löscht, 
weiterhin mehrfach für denselben Vorschlag abstimmen kann.

Der Berliner Blogger Johannes Ponader wirft in einem Artikel [2] vom 
vergangenen Donnerstag die Frage auf, ob es sich tatsächlich um eine Lücke in 
der Software handelt. Vielleicht hat sich die Bundesregierung auch nur eine 
programmierte Hintertüre offen gehalten, um im Falle einer zu schwachen 
Beteiligung oder bei Themen, die man selber pushen oder vermeiden will, 
"nacharbeiten" zu können.

Im Gegensatz zu dem Vorschlag in Sachen OpenSource Software nimmt man seitens 
der Bundesregierung keinen Anstoß an dem derzeitigen Spitzenreiter in der 
Kategorie "Wie wollen wir zusammenleben?". Mit deutlich mehr als 8.000 Stimmen 
liegt hier nämlich ein Beitrag weit vorne, der unter dem Titel "Offene 
Diskussion über den Islam", eine Entkriminalisierung von Islamkritik fordert. 
Wörtlich heißt es hier:

  --Das Thema Islam wird von Politik und Medien gründlich gemieden, 
Islamkritiker werden bestenfalls ignoriert, meist aber diffamiert, Islamkritik 
wird pathologisiert und kriminalisiert. Eine argumentative Auseinandersetzung 
über den Islam muss endlich stattfinden. In der Politik. In den Medien.--

Während sich unter den Kommentaren zu dieser Idee viele rassistisch anmutende 
Statements befinden, die es (dennoch) durch die redaktionelle Kontrolle 
geschafft haben, befürchten andere Diskutanten angesichts der starken 
Zustimmung zu dem Vorschlag eine "Unterwanderung durch die rechte Szene".

Zweiter Versuch in Sachen Bürgerdialog

Kanzlerin Merkel gibt sich in der Anmoderation der Aktion betont bescheiden. 
Man könne noch nicht exakt sagen, zu welchen konkreten Ergebnissen der Dialog 
mit den Bürgern führt, da es sich hierbei um eine Premiere handelt. Um zu 
hohen Erwartungen entgegenzuwirken gibt Merkel zu bedenken, dass der 
Zukunftsdialog nicht alles verändern kann. Was sich konkret ändern wird, wie 
es in die Politik einfließt und was die Bundesregierung aus dieser neuen Form 
lernen kann, wird man erst am Ende der Aktion wissen.

Ganz korrekt ist diese Darstellung allerdings nicht. Bereits im November 2011 
hatte Angela Merkel nämlich den "Digitalen Bürgerdialog" gestartet. Die Bürger 
waren damals dazu aufgerufen, ihre drängendsten Fragen an die Kanzlerin zu 
stellen. Auch hier wurden per Voting die zehn beliebtesten Beiträge ausgewählt 
und von der Kanzlerin, im Rahmen eines YouTube-Videos, beantwortet.

Schon damals war kritisiert worden, dass der Vorstoß der Bundesregierung in 
Sachen Bürgerbeteiligung nichts mit einem Dialog zu tun hatte. Hierzu gehören 
nämlich Rede und Gegenrede. Wer stattdessen nur ausgewählte Bürgerfragen 
monologisch beantwortet, ohne dass die Fragesteller die Möglichkeit zu 
Gegenfragen und Kommentaren haben, der kann nicht für sich in Anspruch nehmen, 
eine demokratische Debatte zu bieten.

Abgesehen davon, dass Angela Merkel im Rahmen des "Digitalen Bürgerdialogs" 
nur in zwei von zehn Fällen auf die tatsächlichen Fragen antwortete [3] und 
sich hauptsächlich darauf beschränkte, Anregungen, Kritik und Vorschläge mit 
dem Abspulen von Passagen aus dem Parteiprogramm der Union zu beantworten, 
erlebten die Zuschauer hier eine sorgfältig einstudierte Rede nach Drehbuch.

Alles soll so bleiben, wie es ist

Neben dem Vorwurf einer eher ignoranten Reaktion auf die ernsthaften Anliegen 
der Teilnehmer, wurde Merkel vor allem dafür kritisiert, dass sie im Rahmen 
des "Digitalen Bürgerdialogs" weniger als Kanzlerin aller Deutschen sondern 
eher als Vorsitzende der CDU auftrat. Hieran knüpft auch die offizielle 
Reaktion der SPD auf den neuen "Zukunftsdialog" an.

SPD-Parlamentsgeschäftsführer Thomas Oppermann stellt infrage, ob im Rahmen 
der Initiative "Zukunftsdialog" die Trennung von Partei- und Regierungsarbeit 
eingehalten wird. Er vermutet wahltaktische Gründe und hält es für "politisch 
grenzwertig, dass die Kanzlerin dazu mit viel Geld und vielen Mitarbeitern 
einen Stab im Kanzleramt aufbaut".

In der Tat kann man sich gut vorstellen, dass Angela Merkel mit der Kampagne 
den Wahlkampf für die Bundestagswahlen im Jahr 2013 einläutet. In Zeiten von 
zunehmender Unzufriedenheit in der Bevölkerung, Occupy und Piraten-Power ist 
die Kanzlerin sicher gut beraten, frühzeitig auf eine dem Namen nach 
interaktive Kommunikation mit den Bürgern zu setzen. Nicht zuletzt dürften die 
Meinungsforscher, PR-Strategen und Kommunikationspsychologen der Union ein 
wachsames Auge auf die eingehenden Vorschläge und die jeweilige Zustimmung 
durch die Teilnehmer werfen. Aus diesem Stoff können dann später die 
Wahlkampfthemen, die Slogans und die Redebeiträge der Wahlkämpfer entwickelt 
werden.

Ob man es der Kanzlerin abnehmen will, dass sie ein wirkliches Interesse an 
den Ideen und Vorschlägen ihrer Bürger hat, muss jeder für sich selber 
entscheiden. Aufschluss hierüber könnte ein Statement der Aktion "Unwort des 
Jahres" bieten. Für das Jahr 2011 war der Begriff "marktkonforme Demokratie", 
nach "Döner-Morde" und "Gutmensch" zu einem der drei Unwörter des Jahres 
gewählt worden. Zur Begründung hieß es in einer Presseerklärung der Jury:

  --Die Wortverbindung marktkonforme Demokratie steht für eine höchst 
unzulässige Relativierung des Prinzips, demzufolge Demokratie eine absolute 
Norm ist, die mit dem Anspruch von Konformität mit welcher Instanz auch immer 
unvereinbar ist. Sie geht zurück auf ein Statement Angela Merkels, wonach Wege 
zu finden seien, "wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, 
dass sie trotzdem auch marktkonform ist.--

Wer weniger tief in die innere Haltung der Kanzlerin in Sachen Demokratie 
eintauchen will, der kann seine Rückschlüsse allerdings auch einfach aus dem 
abschließenden Statement von Angela Merkel zum "Zukunftsdialog" ziehen, in dem 
es heißt:

  --Denn Deutschland soll so bleiben, wie es ist. Menschlich und 
erfolgreich.--

Wenn Merkel in ihrer mittlerweile sprichwörtlichen "Alternativlosigkeit" 
ohnehin will, dass alles so bleibt, wie es ist, dann kann den "Zukunftsdialog" 
als demokratische Mogelpackung, als Beschäftigungstherapie und Wutventil für 
Empörte und als Instrument in Sachen CDU-Meinungsforschung getrost zu den 
Akten legen und seine Zeit mit etwas Sinnvollerem ausfüllen.

[1] https://www.dialog-ueber-deutschland.de/
[2] http://www.johannesponader.de/drupal/acquia-drupal-1.2.33/node/13
[3] http://jacobjung.wordpress.com/2011/11/25/digitaler-burgerdialog



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