Ãœber christliche Strophen im Koran
Günter Lüling fordert mit seinem Lebenswerk den Islam zu einer 
Reformation heraus



01. Juni 2004 Günter Lüling: A Challenge to Islam for Reformation.
Verlag Motilal Barnasidass, New Delhi 2003. 580 Seiten (lieferbar per
Seepost, Telefax-Nr. 00 91/11/23 93 06 89).

Wer hätte gedacht, daß ein so entlegenes und schwieriges Metier wie
die Koranforschung einmal zu den heißesten Eisen gehören würde, die
man schmiedet? Diffizile Untersuchungen aus der Feder von in der
breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Arabisten und Semitisten
geraten im Zeitalter des "clash of civilizations", der in Wahrheit ein
"Zusammenprall" mit dem Islam ist, unversehens in die Schußlinie - vor
allem natürlich der Muslime, die bei einem solchen Unternehmen oft
nicht wissenschaftlichen Erkenntnisdrang, sondern Feindschaft am Werke
sehen. Im Jahre 2000 erschien das Buch "Die Syro- aramäische Lesart
des Korans" aus der Feder eines deutschen Semitisten unter dem
Pseudonym Christoph Luxenberg. Der Forscher hatte behauptet, man 
könne
einen Großteil jener Koranstellen, die unklar seien (etwa ein Viertel
der mehr als 6000 Verse), besser deuten, wenn man von einer
ursprünglich aramäischen Sprachgestalt des Korans ausgehe
beziehungsweise von einer Mischsprache, die jedenfalls noch nicht mit
dem erst später vollständig ausgebildeten Hocharabischen identisch
war. Bei Luxenberg blieben unter anderem die "Huris" auf der Strecke,
jene "Paradiesjungfrauen", die der Koran etwa den Märtyrern verheißt.

Günter Lüling, deutscher Orientalist und Theologe, verbirgt sich nicht
hinter einem "nom de plume". Seit vierzig Jahren bemüht er sich um ein
angemesseneres Verständnis des heiligen Buches der Muslime. Und was 
er
vorzubringen hat, ist brisant vor allem für jene, die immer auf der
Unantastbarkeit von Texten und Ãœberzeugungen beharren. Bis jetzt sind
es freilich weniger Muslime gewesen, die Lüling das Leben
schwergemacht haben, als vielmehr Fachkollegen. Es ist bezeichnend,
daß die Endfassung seines Lebenswerks über den Koran in englischer
Sprache jetzt in einem indischen Verlag publiziert worden ist.
Immerhin haben sich vom 21. bis 25. Januar in Berlin Arabisten und
Koranforscher zusammengesetzt, um wenigstens über Luxenbergs Ansatz zu
diskutieren. "Wir wissen noch viel zuwenig", lautete die vorläufige
Bilanz.

Schon der englische Titel deutet an, worum es Günter Lüling vor allem
geht: "A Challenge to Islam for Reformation". Diese Reformation des
Islams ist nach Lülings Überzeugung nicht nur notwendig, sondern ohne
eine kritische Sichtung des heiligen Textes, wie er - und andere - sie
vornehmen, nicht möglich. Koranforschung wird somit auch eminent
politisch. Lüling setzt fort, was um die Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert schon einmal begonnen worden war, eine Koranexegese mit
den historisch-kritischen Methoden der westlichen Wissenschaft, wie
sie zum Beispiel Carlo de Landberg, Martin Hartmann und Karl Vollers
angewandt hatten. Zu jener Zeit war bereits vermutet worden, daß sich
hinter Teilen des Korans christliche Hymnendichtung verberge. Schon in
seiner Dissertation von 1970, die er 1974 erweitert als Buch mit dem
Titel "Über den Ur-Koran" vorgelegt hatte, hatte Lüling den Weg
beschritten, dem er seither treu geblieben ist. Er hat ihn ins
akademische Abseits und in persönliche Not geführt, weil er
Vorstellungen in Frage stellte, welche die Muslime in mehr als tausend
Jahren liebgewonnen haben, aber wohl auch, weil er einigen Autoritäten
der Koranforschung widersprach.

Der Rezensent, der über die Fülle der Details und Argumente in 
Lülings Werk mit mehr als einem halben tausend Seiten nur staunen
kann, vermag bloß zu referieren, was stupende Gelehrsamkeit da
zusammengetragen hat. Im Unterschied zur neuen angelsächsischen Schule
der Koranforschung (Wansbrough-Revisionismus), die sich mit
Zusammenstellungen des heiligen Buches zweihundert Jahre nach dem Tod
des Propheten Mohammed (632 n. Chr.) "beschäftigt", glaubt Lüling, daß
essentielle Teile des Korans schon vor dem Propheten existierten -
 eben als christliche Hymnen- und Strophendichtung. Es ist seine
Grundthese, die er als "Rekonstruktion" des Ur-Korans ansieht. Hätte
Lüling recht, würde vieles über den Haufen geworfen, was Muslime bis
heute für richtig halten: daß der Koran, wie er heute ist, vollständig
dem Propheten geoffenbart worden ist und unter dem Kalifen Uthman, der
zwischen 644 und 656 herrschte, zu einem im wesentlichen zuverlässigen
Text zusammengefügt wurde. Zwar fiel auch den muslimischen Exegeten
des Korans bisweilen auf, daß viele Stellen unklar waren, und sieben
Lesarten galten immerhin als tolerabel, doch hatten sie nicht jene
historisch-kritischen Methoden zur Verfügung, welche die moderne
Wissenschaft bereitstellt.

Wie geht Lüling vor? Er legt die extrem defektive Schreibung des
frühen Arabischen seinen Analysen zugrunde. Wie alle semitischen
Sprachen gibt das Arabische in seiner Schrift im allgemeinen nur die
Konsonanten und die langen Vokale wieder, die kurzen Vokale werden
weggelassen. Der Koran wird allerdings, weil hier jeder Buchstabe
wegen der Interpretation besonders wichtig ist, mit Hilfszeichen
vokalisiert, die jedoch erst später aufkamen. Dasselbe gilt für jene
Punktation, die darüber entscheidet, ob ein Buchstabe ein b, ein t,
ein th, ein n, ein s, ein sch, ein z oder r, ein f oder q ist. Die
heute gebräuchliche arabische Schrift hat sich von einer nur
andeutenden, quasi stenographischen Schreibweise im Laufe von
Generationen zu einer mit Hilfe diakritischer Zeichen "vollständigen"
Schrift entwickelt, ein Prozeß, wie er auch im Hebräischen unter den
Masoreten stattfand. Man kann verstehen, welche Möglichkeiten der
Mißlesung angesichts solcher Eindeutigkeitsmängel in der Schreibung
denkbar sind. Wie Luxenberg geht es auch Lüling in seiner Forschung
keineswegs darum, die islamische Religion zu destruieren, ganz im
Gegenteil: Von seiner Rekonstruktion des Ur-Korans erwartet er sich
vielmehr entscheidende Impulse auch für den christlich-islamischen
Dialog, bilden doch seine Ergebnisse eine Brücke zwischen beiden
Religionen, wie sie - recht verstanden - breiter kaum sein könnte. Daß
biblisches und christliches Traditionsgut im Koran vorkommt, daß Jesus
darin als Vorgänger Mohammeds eine wichtige Rolle spielt, ebenso Maria
und biblische Propheten oder Patriarchen, gehört zum Standardwissen
über die Stiftungsurkunde des Islams, natürlich auch bei den Muslimen.

Mit vielen neuen Argumenten hat Lüling wichtige Teile des Korans als
ursprüngliche christliche Hymnen (Responsorien) identifiziert und
ihren exakten Wortlaut wiederherzustellen versucht, mit hochgelehrten
Mitteln, die natürlich auch die Kenntnis vorislamischer Dichtung im
Orient, ihrer Prosodie und sprachlichen Gestalt voraussetzt. Auch
unter den altarabischen Poeten gab es Christen, wie überhaupt der
Komplex einer vorislamischen oder altarabischen Beduinendichtung und
ihrer Sprachebene und Grammatik zu den interessantesten, aber auch
besonders strittigen Themen in der Forschung gehört. Taha Hussain
hatte schon im vorigen Jahrhundert Zweifel an der vollständigen
Authentizität dieser Dichtung, so wie sie vorliegt, geäußert; und er
war es auch, der vermutet hatte, im Koran fänden sich "metrische
Kompositionen" aus der Zeit vor Mohammed. Die Proteste waren groß.
Lüling geht Texte wie die Suren 96, 80 und etliche andere mit seiner
Methode an. Es führte zu weit, die Rekonstruktionen etwa bestimmter
"mißlesener Verbformen" im einzelnen aufzuführen, doch ergeben sich
durch Neulesungen etwa zahlreicher eschatologischer Stellen
inhaltliche Veränderungen, die einsichtiger an altes religiöses
Traditionsgut anknüpfen als die bisherigen, für unantastbar gehaltenen
Lesungen und somit auch religionsgeschichtliche Kontinuität
herstellen.

WOLFGANG GÃœNTER LERCH

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.2004, Nr. 125 / Seite 9



------------------------ Yahoo! Groups Sponsor --------------------~--> 
Life without art & music? Keep the arts alive today at Network for Good!
http://us.click.yahoo.com/9I_uBB/YPaOAA/Zx0JAA/uTGrlB/TM
--------------------------------------------------------------------~-> 

Post message: [EMAIL PROTECTED]
Subscribe   :  [EMAIL PROTECTED]
Unsubscribe :  [EMAIL PROTECTED]
List owner  :  [EMAIL PROTECTED]
Homepage    :  http://proletar.8m.com/ 
Yahoo! Groups Links

<*> To visit your group on the web, go to:
    http://groups.yahoo.com/group/proletar/

<*> To unsubscribe from this group, send an email to:
    [EMAIL PROTECTED]

<*> Your use of Yahoo! Groups is subject to:
    http://docs.yahoo.com/info/terms/
 



Kirim email ke