19. Februar 2004,  02:11, Neue Zürcher Zeitung

Auf der Suche nach der verlorenen Vorzeit 
Günter Lülings apokalyptische Koranphilologie 
Der islamischen Tradition gilt die Textüberlieferung des Korans als
unter besonderem göttlichem Schutz stehend: Im Gegensatz zur
hebräischen Bibel und zum Neuen Testament zeichne sich der islamische
Überlieferungsprozess durch eine wundersame Immunität gegen jede
Verfälschung von Mohammeds ursprünglicher Verkündigung aus. Gegen
dieses Dogma von der unbedingten Zuverlässigkeit der
Koranüberlieferung wendet sich Günter Lülings Versuch der Freilegung
eines judenchristlichen «Ur-Korans». Ausgangspunkt ist dabei der
besondere Charakter der arabischen Schrift, die zunächst keine
diakritischen Punkte besass: Ein einziger Buchstabe kann so für bis zu
sechs verschiedene Konsonanten stehen, während Vokale fast ganz
fehlen. Durch geschickte Veränderung der Konsonanten und Vokale habe
Mohammed in eine Sammlung christlicher Strophenlieder einen gänzlich
anderen Text hineingelesen, der mit seiner Vorlage nur noch die
unpunktierten Schriftzeichen teilte. Spätere Redaktoren hätten dieses
Korpus dann nochmals überarbeitet, wodurch Mohammeds eigentliche
Botschaft, eine radikale Kritik der monotheistischen Hochreligion aus
der Warte des altarabischen Polytheismus, aus politischer Opportunität
in ihr Gegenteil verkehrt wurde.

Im Hintergrund dieser Thesen steht Lülings Überzeugung, die arabische
Halbinsel der Spätantike sei der Rückzugsraum eines noch nicht von den
Trinitätsspekulationen der griechischen Theologie kontaminierten und
die Dreifaltigkeitslehre ablehnenden Judenchristentums gewesen. Die
mit imperialen Zwangsmitteln bewaffnete byzantinische Orthodoxie habe
dieses authentische Urchristentum schliesslich auch in Arabien immer
mehr in die Defensive gedrängt, worauf Mohammed mit einer 
Verschärfung
der judenchristlichen Kritik an der hellenisierten Theologie
geantwortet haben soll: Seine Absicht sei die Restauration eines
paganen Fruchtbarkeitskultes gewesen, den Lüling auch als treibende
Kraft des Urchristentums sieht. Jesus und Mohammed teilen so dasselbe
Schicksal: Beide revoltierten gegen jene Art von militanter
Orthodoxie, für die man sie postum vereinnahmt hat.

Zivilisationskritischer Grundimpuls 
Die Fülle der von Lüling ausgebreiteten philologischen und 
historischen Details steht dabei in eigenartigem Kontrast zu der
manichäischen Klarheit seines Geschichtsverständnisses, dessen immer
neu variiertes Thema das Ringen zwischen vorzeitlicher Naturreligion
und repressiver Reichsideologie ist. Offenbar vermag nur ein mit
apokalyptischer Einsicht in die Geschichtsformel begabter Philologe
wie Lüling die massiven Zensuroperationen aufzudecken, deren sich die
«imperialistische Yahwe-Religion», das christliche Byzanz und das
abbasidische Kalifat gleichermassen schuldig gemacht haben: Ihm allein
erschliesst sich der allen drei monotheistischen Religionen zugrunde
liegende und im Nachhinein verdrängte Fruchtbarkeitskult. Lülings
Unternehmen ist so von einem radikal zivilisationskritischen
Grundimpuls motiviert, dem die menschliche Geschichte als eine
Geschichte der menschlichen Selbstvergessenheit und Selbstverleugnung
erscheint, als Chronik des Abfalls vom guten Ursprung.

Trotz seinem spekulativen Geschichtsbild hat Lüling den Anspruch,
seine Thesen in akribischer philologischer Kleinarbeit zu erhärten.
Die Annahme einer massiven Verlesung des koranischen Schriftbildes -
eine Annahme, die leider selbst nicht eigens begründet wird - bringt
natürlich die grundsätzliche Schwierigkeit mit sich, dass der Urtext
zu einem kaum noch dechiffrierbaren Code wird, bei dem nicht einmal
der Konsonantenbestand unbesehen akzeptiert werden kann. Der
Koranforscher steht so wie ein Ägyptologe des 19. Jahrhunderts vor
einer semantisch unbestimmten Menge grafischer Zeichen, deren
Textcharakter es erst einmal zu restituieren gilt. Und genau wie der
Ägyptologie kommt auch der Koranforscher nicht ohne eine Art
Rosettastein aus: Er bedarf einer textexternen Kontrollinstanz, welche
das Spektrum möglicher Interpretationen der Zeichenmenge drastisch
reduziert. Anders gesagt: Wenn Lülings Skepsis gegenüber der
überlieferten Gestalt des Korans am Platze ist, dann lässt sich das
verbleibende Zeichenskelett gar nicht verstehen, ohne dass man sich
ihm mit einer bestimmten Vorstellung davon nähert, wovon es eigentlich
handelt. Gerade dadurch aber droht ein verhängnisvoller Zirkelschluss,
der den Interpreten im Text nur die eigenen Vorurteile darüber
wiederfinden lässt, was der Text sagen müsste.

Auf welche Kontrollinstanzen greift Lüling also bei der 
Dechiffrierung des Korans zurück? An erster Stelle stehen 
philologische Erwägungen: Auch wenn die Urfassung, die Lüling 
gleichsam «hinter» dem heutigen Koran ausmachen will, nicht den 
Massstäben klassisch-arabischer Sprachrichtigkeit genügt, sondern in
einer der griechischen Koine ähnelnden Umgangssprache verfasst sein
soll, so muss diese doch in einer gewissen Kontinuität zu später
entstandenen Dialekten einerseits und zum Wortschatz des
Hocharabischen andererseits stehen. Lüling bietet so eine Reihe von
durchaus diskutablen Textemendationen, die vor allem auf der reichen
grammatischen und lexikalischen Literatur der klassischen arabischen
Linguistik basieren.

Ein Ozean von Lesarten? 
Ein weiteres Kriterium findet Lüling in den formalen Charakteristika
christlicher Strophendichtung, in deren Tradition er den von ihm
rekonstruierten «Ur-Koran» stellt. Allerdings ist damit das
Vorhandensein einer christlichen Grundschicht im Koran bereits
vorausgesetzt. Die formgeschichtliche Parallelisierung des Korans mit
der christlichen Liedtradition gründet damit auf Lülings drittem
Kriterium: einem «dogmenkritischen» Zugang zum Ur-Islam, der diesen
als Neuformulierung eines antitrinitarischen Judenchristentums zu
sehen bemüht ist. Dass dieses Bemühen zumindest von einem begrenzten
Erfolg gekrönt ist, kann angesichts der Ambivalenz der arabischen
Schrift nicht überraschen. Aber darf man ohne weiteres voraussetzen,
dass der Ur- Koran von genau den Dingen zu handeln hat, die auch im
Zentrum von Lülings eigenen theologischen Interessen stehen? Das
Ergebnis der Rekonstruktion wäre in diesem Fall von den kontingenten
thematischen Vorlieben des Forschers abhängig, und die Zahl möglicher
Ur-Korane droht damit ins Unermessliche zu wachsen - schliesslich
könnte es allein auf der Grundlage des unpunktierten Schriftbildes
durchaus möglich sein, den Koran als spätantikes Kochbuch zu lesen.

Trotz allen Vorbehalten gegen Lülings Arbeit bleibt festzuhalten, dass
seine Verbindung von couragierten Geschichtskonstruktionen,
philologischer Detailarbeit und religionsgeschichtlicher Breite
Tugenden exemplifiziert, die der Koranwissenschaft nur zu wünschen
sind. Lülings Thesen riskieren viel - und gerade darum hätte eine
detaillierte Diskussion seiner Forschungen eine überaus befruchtende
Wirkung ausüben können. Eine Rezeption seitens der Fachwissenschaft
ist leider weitgehend ausgeblieben, Lüling selbst verliess nach der
Promotion unter dubiosen Umständen die Universität. Auch wenn seine
Selbstdarstellung als Opfer konzertierter Verfolgungsmassnahmen sich
mit verdächtiger Folgerichtigkeit in sein Geschichtsbild fügt -
Tatsache ist, dass in der deutschen Islamwissenschaft, anders als in
der Biblistik, wenig Platz für einen den Konsens der Experten in Frage
stellenden Aussenseiter zu sein scheint. Ist die Ursache dafür ein im
Sinne Edward Saids orientalistisches Streben danach, andere Kulturen
auf eine Eindeutigkeit des Wissens festzuschreiben, die etwa von einem
Neutestamentler gar nicht verlangt würde? Oder handelt es sich um eine
vorgreifende Selbstzensierung der Koranwissenschaft, die sich - gerade
weil sie sich des Orientalismus für schuldig bekennt - prinzipiell für
unbefugt hält, islamischen Selbstbeschreibungen zu widersprechen, und
sei es aus guten philologischen Gründen?

Nicolai Sinai

Günter Lüling: A Challenge to Islam for Reformation. Motilal 
Banarsidass Publishers, Delhi 2003. ISBN 81-208-1952-7. lxviii + 580
S., £ 75.-. (Engl. Übers. und Überarbeitung von Günter Lüling, Über
den Ur-Qur'ân, Erlangen 1974.) Erhältlich über Motilal Books, P. O.
Box 324, Borehamwood Herts, WD6 1NB England. www.mlbduk.com. Tel.
0044-208-905-1244, Fax 0044-208-905-1106, E-Mail: [EMAIL PROTECTED]

Nicolai Sinai hat ein Studium der Arabistik und Philosophie mit einer
Magisterarbeit zum mittelalterlichen islamischen Aristotelismus
abgeschlossen; Thema seiner Dissertation sind frühe Korankommentare
aus dem 8. bis 10. Jahrhundert.



  Lüling und Luxenberg 
nsi. In der westlichen Orientalistik ist bis in die siebziger Jahre
kaum bezweifelt worden, dass die heutige Textfassung des Korans im
Wesentlichen die authentische Verkündigung Mohammeds aus dem frühen
siebten Jahrhundert n. Chr. wiedergibt. Erst durch John Wansbroughs
umstrittene Spätdatierung des Korans in das neunte Jahrhundert wurde
dieser Konsens nachhaltig erschüttert. Internationales Aufsehen hat in
jüngster Zeit vor allem die These von Christoph Luxenberg erregt, der
Koran sei ursprünglich ein christliches Lektionar in einer
aramäisch-arabischen Mischsprache gewesen und erst später einer
islamisierenden Bearbeitung unterzogen worden. Luxenbergs Grundidee -
der koranische Konsonantentext sei von der muslimischen Tradition
massiv verlesen und missverstanden worden - verdankt sich der 1974
erschienenen und seinerzeit kaum rezipierten Dissertation von Günter
Lüling. Dass die Diskussion inzwischen auch die Fachwissenschaft
erreicht hat, demonstriert ein Ende Januar in Berlin abgehaltenes
Symposion zum Thema «Wege zur Rekonstruktion des vorkanonischen
Korans», bei dem Luxenbergs Thesen intensiv diskutiert wurden.










Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: 
http://www.nzz.ch/2004/02/19/fe/page-article9DLZS.html 




Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG 




------------------------ Yahoo! Groups Sponsor --------------------~--> 
Something is new at Yahoo! Groups.  Check out the enhanced email design.
http://us.click.yahoo.com/co.u8A/gOaOAA/Zx0JAA/uTGrlB/TM
--------------------------------------------------------------------~-> 

Post message: [EMAIL PROTECTED]
Subscribe   :  [EMAIL PROTECTED]
Unsubscribe :  [EMAIL PROTECTED]
List owner  :  [EMAIL PROTECTED]
Homepage    :  http://proletar.8m.com/ 
Yahoo! Groups Links

<*> To visit your group on the web, go to:
    http://groups.yahoo.com/group/proletar/

<*> To unsubscribe from this group, send an email to:
    [EMAIL PROTECTED]

<*> Your use of Yahoo! Groups is subject to:
    http://docs.yahoo.com/info/terms/
 


Kirim email ke