Hallo Till, hallo Manuel, beste Rohrpost,

zur Frage der 'Wissenschaftlichkeit': es ist nach wie vor so, daß in den 
Naturwissenschaften, voran in der Physik, die Schärfe und Feinheit der 
Begriffsbildung den anderen Disziplinen weit voraus ist. Der Vorstellung von 
Welt, die in den Grundzügen zum Ende des 19. Jahrhunderts aus der Physik 
entstand, Relativitätstheorie und Quantenmechanik, entspringt erst das harte 
Kriterium der Falsifizierbarkeit. Es dient u.a dazu, Argumenten dort Absagen zu 
erteilen, wo Schlußfolgerungen, in manch hermetisch praktizierter 
Beweisführung, über die Grenzen des in der jeweiligen Disziplin angewandten 
Axiomensystems hinauszutreten suchen und damit den Horizont der 
Wissenschaftlichkeit verlassen würden. Der Wiener Kreis hat darauf hingewiesen, 
daß mit der empirisch erfassbaren, relativen Häufigkeit, synthetische a priori 
an Stellung verlieren würden. Der Schluß von gestern auf Morgen, von Hier auf 
Dort, die Induktion, besäße exakte Gültigkeit ausschließlich dort, wo eine 
(falsifizierbare, dh. grundsätzlich widerlegbare) Gesetzmäßigkeit festzustellen 
ist. 

Die Rückführung der Wahrscheinlichkeit zur empirischen Überprüfbarkeit solle 
allerdings aus wissenschaftlicher Sicht nicht dazu verleiten (anhand der 
Axiomatik einer Disziplin, samt der Zuordnung ihrer Definitionen, expliziter 
und impliziter) ein Forschungsgebiet nur deshalb zu verwerfen, weil es 'mit 
unzulänglichen, logisch ungenügend geklärten oder empirisch ungenügend 
begründeten Mitteln errafft worden ist' (Carnap, Hahn, Neurath, zur 
wissenschaftlichen Weltauffassung, 1929). So wäre die Meinung nach wie vor 
zulässig, Soziologie, Gender-Studies, Media Theory und andere Hybride zwischen 
den klassischen Disziplinen, ob inter- oder transdisziplinär, dürften als 
wissenschaftlich betrachtet werden, so lange die inhärente Axiomatik und 
moderne Logik nicht ins Nebulöse geführt sind. 

So ist moderne Wissenschaftlichkeit adhoc kaum an der Zuordnung zu einer 
Disziplin abzulesen, vielmehr an der angewandten Praxis. Beim trans- und 
interdisziplinären Arbeiten in den erst neuerdings abgesteckten 
Forschungszweigen, ist es kaum auszuschließen, daß manche Verwirrung schon 
alleine ob unterschiedlicher Begriffsbildungen besteht. Umso genauer wären in 
der Praxis angewandte Definitionen zu prüfen, bevor ans Falsifizieren gedacht 
werden kann. In der empirischen Untersuchung bestimmt nicht zuletzt die Wahl 
des 'Freiheitsgrades (prozentuelle Unsicherheit)', mit welcher 
Wahrscheinlichkeit eine Gesetzmäßigkeit festzustellen wäre und somit die Güte 
einer Aussage. 

Ich meine, 'Exaktheit' betrifft hier nicht alleine die wissenschaftliche 
Deutungshoheit, sondern zuvorderst die Relevanz der gestellten Fragen in Bezug 
auf nachvollziehbare Argumentationslinien und demenstprechendes Schlußfolgern. 
Dieser [Sex : Gender]-Rohrpostthread würde nicht stattfinden, träfe dieser 
nicht Definitionsprobleme, die konkret von unterschiedlichen Disziplinen 
abhängen. Es empfiehlt sich strenge naturwissenschaftliche Kriterien (höchste 
messbare Wahrscheinlichkeit) dort zur verlangen, wo auch anwendbar. Wo die 
Instrumentarien (noch) nicht so weit reichen, manche Definition wenig 
nachhaltig bleibt, auch absurde Fragestellungen auftauchen, nicht 
nachvollziehbare Schlüße gezogen werden, bleibt uns zum Trost weiterhin der 
methodische Zweifel und das Plädoyer, den nicht ganz so exakten Wissenschaften 
nicht per se eine Wissenschaftlichkeit absprechen zu wollen, sondern am Detail 
die Zuverlässigkeit zu prüfen.

Beste Grüße
Mic Mikina

--
rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze
Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost 
http://post.in-mind.de/pipermail/rohrpost/
Ent/Subskribieren: http://post.in-mind.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/

Antwort per Email an