On 30.01.2018 19:05, Stefan Nagy wrote:
Ich habe die erste Hälfte meines Lebens im Bezirk Mödling verbacht.
Mödling ist nicht nur irgendeine Ansiedlung mit einem historisch
überlieferten Namen, sondern ein gegenwärtiger Bezugspunkt. Ich bin in
Laxenburg aufgewachsen. Und so wie die allermeisten Kinder und
Jugendlichen im Bezirk bin ich in eine der vielen Sekundarschulen
Mödlings gegangen. Am Abend sind wir, wie viele andere, in Mödling
weggegangen.

Selbst Laxenburg geht problemlos als Bezugspunkt durch. Kinder gehen da
in die Volks- und vielleicht Musikschule; manche sind bei der
Pfadfinder-Gruppe, manche gehen zur Freiwilligen Feuerwehr, manche
gehen mit den Eltern zum Tennis-Klub; viele treffen sich (so
unterschiedlich ihre Leben sonst auch sind) dann im Sommer im Bad usw.
usf. Und dann kommt da auch noch der ADEG dazu, bei dem man sich sieht
(der glaub ich jetzt aber zugesperrt hat); der Bäcker, die Apotheke
usw. usf.

Durch solche gemeinsamen Bezugspunkte entsteht Idenität. Man ist
Laxenburger. Die anderen sind Biedermannsdorfer. Auf einer anderen
Ebene ist man mit denen eins.

Das war bis zu meiner Jugend auch in Wien so. Man ging zum Greißler einkaufen, saß in der Freizeit im Hof der Wohnhausanlage und tratschte mit den Nachbarn. Meine Großmutter ging alle Wege zu Fuß. Was weiter weg war, lag außerhalb ihres Lebensbereichs. Meine Eltern hatten unterschiedliche Dialekte, man konnte am Dialekt erkennen, aus welchem Teil Wiens jemand kam. Das ist in den letzten Jahrzehnten alles verloren gegangen, und das ist eine Entwicklung, die auch Mödling und seine Nachbargemeinden betrifft:

Also wenn man Leute aus einem anderen
Bundesland kennenlernt, werden die Differenzen zum Achauer
vernachlässigbar; dann ist man Mödlinger. Aber wenns um Wien geht…
Viele Mödlinger die ich kenne haben ein Wien-Bild, das starke
Ähnlichkeiten zu dem hat, das ich sehr ähnlich von Steirern kenne
(trotz der viel kürzeren Luftlinie). Sie haben ihr Bild primär aus den
Medien – und dann kennen sie noch die Mariahilfer Straße, den Graben
und die Kärtner Straße. Ihr Zentrum ist aber eben nunmal Mödling, nicht
Wien.

Heute pendeln viele Mödlinger nach Wien zur Arbeit, und alle Wiener, die es sich leisten können, siedeln aus Wien raus ins Umland. Die Durchmischung ist hier in vollem Gange, und du bist dafür das beste Beispiel. Du hast deine Identität als Laxenburger aufgegeben und im Gegenzug auch zum Identitätsverlust der Nikolsdorfer beigetragen.

Das Phänomen gibt es nicht nur im Raum Wien. Im Höhlenkataster wird eine Kristallhöhle bei Deutsch Altenburg geführt. Sie wurde in den 40er-Jahren durch einen Felssturz verschüttet oder zerstört. Vor 2 Wochen war ich dort um herauszufinden, ob von der Höhle noch was übrig ist bzw. ob sich die ungefähre Lage auf dem Grundstück noch eruieren lässt; aber auch um die Anwohner zu fragen, ob sie was von der Höhle wissen. Die heutige Bewohnerin war aber an der Höhle überhaupt nicht interessiert, und ein Nachbar sagte nur, er sei erst vor kurzem eingezogen und kenne nichts und niemanden. Ein Haus weiter ist ein Geschäftslokal. Dessen betreiber sagte, er führe dieses Lokal seit 45 Jahren und es gebe in der Umgebung keine Höhle. Als ich ihm erzählte, dass sich 50m von seinem Lokal entfernt eine Höhle mit schönen Kristallen befunden hatte, zeigte auch er sich desinteressiert, und ihm war anzumerken, dass er sich ein Ende des ohnehin kurzen Gesprächs herbeiwünschte.

Heute identitfiziert man sich nicht mehr mit einem Ort, sondern über Interessen, und die sozialen Kontakte finden nicht mehr an der Bassena oder im Wirtshaus statt, sondern am Handy und auf Facebook. Auch unsere Diskussion jetzt gerade ist nicht eine zwischen zwei Laxenburgern, sondern eine zwischen zwei Openstreetmappern, die einander nie gesehen haben.

glaubst du, die Leute von links und rechts der
Nikolsdorfer Straße erkennen sich dort als Nikolsdorfer?

Es wär interessant, von Tür zu Tür zu gehen und sie zu fragen. Zumindest ob sie was von Nikolsdorf wissen. Bei den jüngeren, zugereisten sind die Antworten vorhersehbar, interessant sind die Senioren. Wenn du Lust hast, können wir das mal gemeinsam versuchen. Ich wohne auch nur 1½ km entfernt.

Meine Erfahrung ist eben die, dass man in freien Projekten mit derart
unterschiedlichen Leuten zu tun hat, dass man immer wieder bemerkt,
dass man ganz unterschiedliche Weltwahrnehmungen hat und ab und zu – so
sehr man sich auch bemüht – einfach aneinander vorbeiredet. Da finde
ich sowas wie die Dritte Meinung eine ganz gute Sache.

Nur ist hängt es dann halt davon ab, wer der Dritte ist. Wenn der zufällig ausgewählt wird, ist auch seine Meinung zufällig.

Ich würde den Projekten nicht vorwerfen, etwas falsch zu machen. Es ist
eben wirklich beachtlich, wie unterschiedlich man Dinge einschätzen
kann; wie wenn man auf unterschiedlichen Planeten leben würde.
Angesichts dessen ist es eher ein Wunder, wie gut nicht autoritär
geführte Projekte funktionieren.

Ich sehe das pessimistischer, nämlich dass nicht-autoritär geführte Projekte sich früher oder später einer autoritären Führung zuneigen, so wie in Animal Farm.

Im deutschsprachigen Wiki-Artikel steht "eine geografische oder
soziale Bezugsstruktur innerhalb einer Großstadt (place=city) […]
welche sich räumlich/geografisch und auch oft von der sozialen oder
ethnischen Struktur seiner Bewohner her von anderen Stadtvierteln
abgrenzt".

Keines dieser Kriterien wird erfüllt.

In der englischen Version steht was ganz anderes. Ich verstehe nicht,
warum Deutsche und Russen immer wieder abweichende Definitionen
aufstellen wollen und damit die internationalen Standards
untergraben.

Die zitierte Definition klingt schwulstig, ist aber trotzdem
unscharf. Was soll man sich unter einer "geografischen oder sozialen
Bezugsstruktur" vorstellen? Auch eine Familie oder ein Sport- oder
Pensionistenverein sind soziale Bezugsstrukturen. Als Beispiel für
eine geografische Bezugsstruktur fallen mir die Alpen ein. Der
Hinweis auf "andere Stadtviertel" scheint mir unpassend, denn das
Wort "andere" impliziert, dass auch das place=neighbourhood selber
ein Stadtviertel ist. Stadtviertel sind aber größere Einheiten, z.B.
place=quarter.

Zu geografischen Bezugspunkten (von "struktur" würde ich da nicht
sprechen): Ich verbringe immer wieder viel Zeit in Luzern in der
Schweiz und gibt es Hügel bzw. Berge, zu denen Bezüge in den lokalen
Identitäten bestehen. Also man wohnt am Gütsch oder am Bramberg usw.
Die Gegenden unterscheiden sich durchaus soziokulturell und auch in der
Architektur.

Bei uns war es auch nicht anders, meine Mutter stammte vom Laaerberg. Der ist in OSM als Gipfel eingetragen, aber praktisch war er zugleich ein Grätzel, in der jeder über jeden alles wusste.

Ob das mit der geografischen Struktur gemeint ist, ist ein anderes Thema, und ich finde sowieso diese ganze deutsche Wikiseite verfehlt, weil sie mit anderen Seiten in Konflikt steht.

Soziale Bezüge habe ich oben genannt; eben danach frage ich ja bei
Nikolsdorf. Es braucht irgendwas, das ein "Wir" herstellt; in aller
Regel ist das eine Vielfalt von Bezugspunkten, daher macht da auch das
Gerede von einer Bezugsstruktur Sinn.
Auch da bleibt es Spekulation, ob wirklich das gemeint ist. Das weiß nur derjenige, der die deutsche Seite geschrieben hat; und warum er sich was eigenes ausgedacht hat statt die englischsprachige Originalseite sinngetreu zu übersetzen, kann auch nur er beantworten. Ich schätze, über https://www.openstreetmap.org/message/new/kjon kann man ihn befragen. Ich werde das aber nicht machen, weil mir offen gesagt egal ist, warum er es gemacht hat. Wenn das Geschirr zerbrochen ist, macht die Frage nach dem Warum es auch nicht mehr ganz. Man braucht dann keine Fragen, sondern jemanden, der es in Ordnung bringt.

Solang wir von unterschiedlichen Wiki-Definitionen ausgehen, ist es jedenfalls kein Wunder, dass uns eine Einigung schwer fällt.

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