Frederik Ramm <frede...@remote.org> wrote: >ich mache mir Sorgen, wenn ich die Wikipedia betrachte.
Sich sorgen, ist in vielen Fällen der Anfang allen Übels, auch in der Wikipedia. Es wird nach meinem Dafürhalten zu wenig betont, was letzendlich bisher herausgekommen ist. Ich denke, es ist besser, es nicht als Sorge zu empfinden und einen möglichst kühlen Kopf zu bewahren, was natürlich - auch mir - nicht immer leichtfällt. ;-) >Trotz allem, >was die Wikipedia erreicht hat, ist das kein Projekt mehr, dass ich >irgendwie sympathisch finde. Das Projekt macht auf mich den Eindruck, >als ob es langsam an Buerokratie zu Grunde geht. Die Dynamik und der >freie Geist, den das Projekt frueher hatte, werden erstickt in Regeln, >Rechten, Hierarchien. Etwas Analoges ist bei OSM schon fleissig im Gange. Aber anders als Du denkst, wie ich unten im Detail ausführen werde. Zunächst aber in Richtung Makrokosmos: Das Problem ist weder ein Wikipedia- noch OSM-Spezifisches und spiegelt das Übliche wider: Eine "Welt" beginnt mit Anarchie, in der sich Regeln herausbilden, bei denen manche besser und manche schlechter wegkommen. Manche nutzen die Regeln im Sinne des Erfinders. Andere machen sie zur Institution, ohne die Intention der Väter zu kennen oder kennen zu wollen. Gerichtsurteile, über welche die Welt den Kopf schüttelt, sind das Ergebnis. Diejenigen, die schlechter dabei wegkommen, beschweren sich, sofern sie es realisieren. Das passiert insbesondere dann, wenn die Ressourcen knapp werden. Bezogen auf Wikipedia wären das die Beiträge, die man selbst zu leisten in der Lage ist, aber schon von Anderen besetzt sind und bei OSM analog. Auch bei OSM gibt es im Gegensatz zu Wikipedia ein Machtinstrument, mit dem Regeln durchgesetzt werden können, nämlich die Software. Zumindest zur Zeit ist die Macht, damit eine Regel durchzusetzen, größer als man sie mit einer lediglich geschriebenen Regel bei Wikipedia durchsetzen könnte. Hier wäre auch noch die englische/deutsche Homepage von OSM zu nennen, auf welche die OSM-Community im Gegensatz zur en/de Wikipedia Hauptseite keinen Zugriff hat. Alle Machtinstrumente lassen sich sowohl zum Positiven als auch zum Negativen nutzen. So kann beispielsweise ein angebotener proprietärer OSM-Editor dazu genutzt werden, dessen User auszuspähen, obwohl das Projekt an sich ein freies ist - insbesondere dann, wenn dieser eine Anmeldung erfordert. Um aber störende Fehler der OSM Datenbank nachzuvollziehen und deren Entstehung im Editor zu überprüfen, kann man nicht umhin, sich dort anzumelden. (Zur Erinnerung hier noch drei Regelwerke, die sich aus der Anarchie entwickelten: Bei den Regeln der großen Welt - sprich der Erde - kommen die Menschen offensichtlich ganz gut weg, denn letztendlich wird nahezu keiner von Tieren beherrscht oder gefressen, während man sich umgekehrt von Kindesbeinen an ihrer ohne jeden Skrupel und wie selbstverständlich nach Belieben bedient. So konnte sich der Mensch dem Regelwerk in der Tierwelt, nämlich dem dort existierenden Kannibalismus entziehen.) >Mich erinnert das manchmal an die Kritik, die gern an >Hilfsorganisationen geuebt wird: "Von einem Euro, die man an die >Organisation X spendet, kommen nur 10 Cent bei den Beduerftigen an!" - >bei der Wikipedia scheint mir inzwischen, dass von der insgesamt >geleisteten Arbeit 10% in die Verbesserung der Inhalte fliessen, >waehrend der ganze Rest irgendeinem Buerokratie-Eiertanz zum Opfer >faellt. Altgediente Wikipedia-Mitarbeiter wenden sich ab; Leute, die >Jahre ihres Lebens wirklich mit dem Herzen am Projekt hingen, sind >verbittert und enttaeuscht. Es bildet sich eine Clique, ein innerer Kreis. Dito bei OSM, zum Beispiel in dieser Liste und bei den Konferenzen. >Die Presse greift das dann natuerlich gerne auf - zum Beispiel hier ein >Zitat aus dem Spiegel vom Januar >(http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,689588,00.html): In diesem Fall ist die Presse im wahrsten Sinne des Wortes nur ein vorgehaltener Spiegel, allerdings nur für den "inneren Kreis". Die schweigende Mehrhet der Autoren juckt das wenig. Sie produziert weiter 500 Artikel pro Tag und baut existierende weiter aus, so dass "3100" lesenswerte und unermesslichen Content. Die . >"Die Wikipedia ist kein Projekt vieler, sondern ein Projekt weniger. Es >ist ein verbreiteter Irrtum, dass alle Nutzer gemeinsam und demokratisch >zu ihr beitragen, dass sie ein Produkt von "Schwarm-Intelligenz" sei. >Die deutsche Wikipedia hat mehrere hunderttausend angemeldete Nutzer. >Aber [...] Ein halbes Prozent aller aktiv gewordenen Nutzer ist für fast >zwei Drittel der Editierungen verantwortlich - ein Kreis von nicht >einmal 2000 Personen." OSM dito. Das wird sich dann verschärfen, wenn die Karte mit immer Details übersäät wird und nur der technisch Versierte zu filtern in der Lage ist. Das Gleiche gilt für die Zunahme der Komplexität z.B. der Relationen. Nur der technische Versierte wird sich zurechtfinden, wenn die Linienbündel nicht mehr mehr explizit, sondern per Relation gebildet werden. Hier kann nur eine entsprechende benutzerfreudliche Software helfen, mit der man die Spuren/Linien "zusammenklicken" kann. Im Ganzen baut sich hier für den Anfänger ein Konstrukt auf, das er früher oder später als ein ähnliches Monster, wie das Wikipedia Regelwerk empfinden wird. Das ist ein Vorgang, den die alt eingesessenen User von OSM ähnlich wenig wahrnehmen, wie die der Wikipedia bezüglich deren Regelwerkes. Denn sie sind dort hineingewachsen. Dasselbe gilt übrigens für viele andere freie Softwareprojekte. >Es ist auch denkbar, dass es ab einer gewissen Projekt-Groesse einfach >gar nicht mehr anders geht; eventuell ist "nur 10% der Arbeit kommen dem >Projekt zugute" vielleicht wirklich das theoretisch moegliche Maximum. >Fuer mich steht fest, dass bei der Wikipedia einiges falsch laeuft, aber >es ist denkbar, dass es so, wie es laeuft, die "am wenigsten falsche" >Moeglichkeit ist, etwas zu erreichen. ;-) Beispielsweise ein großer Vorteil der Relevanzregeln: Es kann nicht das Leben eines beliebigen Menschens an die Öffentlichkeit gezerrt und verzerrt werden, der das im Falle einer Computerabstinenz nicht einmal wahrnehmen würde. Ohne Relevanzregeln wäre Wikipedia dermassen überschwemmt, dass niemand von den "Hausmeistern" es wahrnehmen würde. Ähnliches gilt für die falschen Darstellungen jedes anderen Artikelgegenstandes. Ohne Relevanzregeln wäre der Weg zum Artikel über Begtriffsklärungen ein unendlich langer. Um zum Beispiel eine Frau Merkel zu finden, von der man nur den Namen kennt, müsste man sich im Extremfall durch ein weltweites Telefonbuch mit allen Merkels kämpfen müssen. Ein schier hoffnungsloses Unterfangen, wenn man nicht wenigstens Anfangskenntnisse zur Person hat. Die Relevanzkritereien stellen hier sicher, dass eine maximale Anzahl von Usern in einer maximalen Anzahl der Fälle dasjenige findet, was er sucht. Diese Einschränkung steht natürlich im Widerspruch zum Anspruch des Individuums jeden Artikel finden und daher auch schreiben zu dürfen. Hier zieht das Argument nicht, dass Wikipedia ein elektronisches Medium ist und daher unendlich sein könne. >Ich stelle mir die Frage, ob unser Projekt OpenStreetMap Gefaehr laeuft, >sich aehnlich zu entwickeln, ob wir auch in eine Richtung steuern, bei >der wir uns immer mehr von "denen da draussen" abkapseln, mehr und mehr >unsere eigenen Regeln aufstellen, Buerokratie aufbauen, Hierarchien >erzeugen, siehe dazu oben: OSM wird zunehmend technisch überladen = Technokratrie. Die "Regeln" sind in Software gegossen. Aber bestehen nicht auch bei uns Regeln außerhalb der Software? Das kann man als "gut" oder "böse" auslegen. Hier mal hypothetische Beispiele: "Gut": Wir bevormunden Neulinge nicht, indem wir keine Regeln aufstellen. "Böse": Die "innere Clique" hat ihre Regeln, gibt sie aber den Neulingen nicht preis. So können Letztere diese nicht erkennen und überprüfen und somit von dieser Clique dahingehend manipuliert werden. Bei Wikipedia ist man wenigstens so ehrlich, dass man diese Regeln für jeden sichtbar auch bekanntgibt. Bezogen auf diese Liste hier: Sie schirmt sich durch eine Mailingliste ab, in welche man nur mit Hilfe eines Clients schreiben kann, der nur mit eingehendem technischen Verständnis konfigurierbar ist. >schliesslich bezahltes Personal beschaeftigen muessen, weil >wir unseren eigenen Freiwilligen nicht mehr ueber den Weg trauen >koennen Das ist zumindest bei Wikimedia Deutschland nicht so. Das eingestellte Personal soll ausdrücklich nur unterstützen, aber nicht in die Enzyklopädie an sich eingreifen. So wird zum Beispiel teure Literatur für die Content erzeugenden User gesponsert, als auch Mediawiki Programmierer eingstellt. Zudem gibt es ähnliche Hilfestellung, wie sie derzeit der FOSSGIS Verein für OSM leistet. Auch hier gibt es Kritik, wie das Geld zu verwenden sei, das nun mal viele zu spenden bereit sind, die nur den Blick auf das Ergebnis haben. Bei OSM ist dieser Break-Even (noch) nicht erreicht. > >Aus Sorge vor verkrusteten Strukturen bin ich ja immer gleich einer der >ersten, der dagegen argumentiert, wenn mal wieder jemand mit >irgendwelchen Demokratie-Ideen fuer OpenStreetMap ankommt. Meiner >Ansicht nach hat ein fehlgeleitetes Verstaendnis von Demokratie zu der >Misere bei der Wikipedia beigetragen - sowas wie die "Relevanzkriterien" >ist automatisches Produkt des verzweifelten Versuchs, irgendetwas >"gerecht" zu machen. Viele nehmen an, dass es automatisch gerecht ist, >wenn wenigstens klare Regeln existieren, nach denen entschieden wird. > >Auf der anderen Seite ist es denkbar, dass das in der Wikipedia genau so >gelaufen ist und dass die Strukturen, die wir jetzt sehen, eben die >sind, die sich von selbst entwickeln, wenn ein Projekt sich weigert, das >aktiv zu tun. Es ist denkbar, dass es einem freien Geist im Projekt eher >foerderlich waere, jetzt in einigen Punkten Autoritaet zu wagen, anstatt >sich zurueckzuhalten und zu warten, bis die Leute sich den freien Geist >selber kaputttrampeln. Der freie Geist des Einen beschränkt den freien Geist des Anderen. Von Kaputttramplen mag ich daher nicht reden. Wenn jemand nicht bereit ist, seine Software benutzerfreundlich zu machen, so ist das sein "freier Geist" und aus seiner Sicht sein gutes Recht. Gleichzeitig verschafft er sich damit einen Machtvorsprung vor demjenigen, der technisch nicht so versiert ist. Und schon ist der Ärger da. >Die Wikipedia scheint aus welchen Gruenden auch immer ein >Vergroesserungsglas fuer schlechte Eigenschaften von Menschen zu sein - >Arroganz, Angeberei, Machtversessenheit, Ueberheblichkeit, die Freude, >sich ueber einen Neuling zu erheben, weil man selbst ja schon seit einer >Woche dabei ist, und so weiter. Vermutlich ist das nicht die Mehrheit >der Leute, und vermutlich tun selbst viele von denen, die als Ekel >rueberkommen, trotzdem noch gute Arbeit, aber dennoch ist das ein >ziemliches PR-Desaster. Auch von PR Desaster mag ich nicht sprechen. Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Und auch das Licht der Wikipedia wurde in vielen Presseartikeln gewürdigt. >Lassen sich eventuell bei genauerer Analyse der Wikipedia-Geschichte >bestimmte Dinge identifizieren, wo man heute sagt: Dies und das haette >man eventuell anders gemacht, wenn man damals gewusst haette, dass sich >das so entwickeln wuerde? An welchen Stellen laeuft OSM Gefahr, >dieselben Probleme zu bekommen wie die Wikipedia, und an welchen Stellen >sind wir unterschiedlich genug, um dagegen immun zu sein? Koennen wir >aus den Fehlern (oder Maengeln) von Wikipedia etwas lernen und einige >Probleme dadurch vielleicht von vorn herein umschiffen? Lassen wir den freien Geist nach vorne? Oder wollen wir steuern, sprich umschiffen? Und braucht man zum Steuern bzw Umschiffen keinen Konsens (Regel) innerhalb dieser "Clique"? Sorry, dass ich es so hart formuliere. Aber bringt uns das nicht genau auf den Kurs der Wikipedia? Wie sollen die Regeln durchgesetzt werden? Per Software? Zum Beispiel lassen sich die Points of Interests fantastisch dazu nutzen, sie mit Meta Informationen anzureichern. Das beginnt, sich in Richtung einer zweiten Wikipedia auzuweiten. Bisher sind es nur Weblinks aber dabei bleibt es sicher nicht. Läßt man das im Sinne der "freien" Entfaltung zu? Oder sollte man es bei der Verlinkung auf Wikipedia Artikel belassen? Wikipedia:de in Deutschland? Bezeichnet man als "freie" Entfaltung im Sinne einer möglichst großen Community und "steuert" daher die Software in Richtung Userfreundlichkeit? Oder überlässt man das dem Individuum des Programmierers? Du sprachst vom Beispiel Wikipedias und was OSM daraus lernen könne. Ich bin dort schon einige Jahre unterwegs. Nach meinem Empfinden sollte ein Wikipedia Autor der Vermittler zwischen Quellen und Leser sein. Das ist ein Journalist aber auch. Aber Wikipedia ist keine Zeitung, kein Magazin und auch keine Suchmaschine, sondern eine Enzyklopädie und soll das Wissen dieser Welt speichern. Die Frage ist, welchen Anspruch ein Leser an eine Enzyklopädie hat. Das ist IMHO die Frage, über die man bei Wikipedia diskutieren sollte. Wikipedia sollte sich am Kunden orientieren. Und genau hier scheitert Wikipedia. Im Moment stehen die Ansprüche der Autoren dort viel zu sehr im Vordergrund. Um die "Fehler" bei OSM zu vermeiden, müsste sich OSM erst einmal definieren. Diese Definition darf aber ausdrücklich nicht festgeschrieben sein, sondern nur eine Momentaufnahme darstellen. Welche Kundschaft möchte man bedienen? Und konsequent darauf sollte man sein Angebot optimieren. Ich denke, eine !!"kundenorientierte"!! Setzung von konkreten Zielen könnte OSM mehr voranbringen und die Fehler von Wikipedia vermeiden helfen. Denn der User ist nun gezwungen, seine eigenen Ansprüche zurückzuschrauben. Ich denke, das kann potentiell sehr viel Streit verhindern. Ziele sind wichtig, da nun alle einigermaßen in dieselbe Richtung marschieren. Man könnte einwenden, dass der individuelle User nun in seiner Freiheit beschnitten sei. Aber das ist er in jedem Falle, wie oben ausführlich dargestellt. Wenn aber schon die Freiheit beschnitten werden muss, dann wenigstens so, dass durch die Zielsetzung ein besseres Miteinander und weniger Gegeneinander produziert wird und damit das Aufwand/Nutzenverhältnis sich verbessert. Die "Kundenorientierung" gibt dem User dabei ein Mittel an die Hand, mit dem der Erfolg besser gemessen werden kann, indem er das von der Community geschaffene Produkt selbst als "Kunde" benutzt. Ich könnte hier noch endlos schreiben, will es aber erstmal dabei belassen. Offensichtlich hast Du (Frederik) hier ein sehr philosophisches Thema angeschlagen, zu dessen makroskopischer Betrachtung hier wohl die Fachleute fehlen. Also bleiben wir in unserem kleinen OSM-Mikrokosmos. ;-) >Ich weiss, dass einige von Euch einen soliden Wikipedia-Background haben >(ganz im Gegensatz zu mir). Hat vielleicht jemand von Euch Lust, auf der >State of the Map-Konferenz einen Vortrag in dieser Richtung zu halten? >Es muss ja nicht ganz so negativ sein, wie ich es hier geschildert habe, >ein Insider wuerde da vermutlich mehr Nuancen sehen, und natuerlich kann >man nicht nur aus Fehlern lernen, sondern auch Erfolge kopieren. >Grundsaetzlich ist aber dieses "aus der Entwicklung der Wikipedia >lernen" eine Chance, die wir nicht vertun sollten, denn es gibt nicht >viele andere Projekte, die aehnlich wie wir gestrickt sind. > >Der "Call for Papers" fuer die State of the Map geht noch bis zum 30. >April: http://stateofthemap.org/call-for-papers/ Das würde ich liebend gerne tun. Barcelona ist mir allerdings zu weit. Außerdem könnte ich auf Englisch mangels Übung nur einen vorbereiteten Vortrag abspulen aber keineswegs auf Zwischen- und Nachfragen reagieren. _______________________________________________ Talk-de mailing list Talk-de@openstreetmap.org http://lists.openstreetmap.org/listinfo/talk-de