Den beiden Hauptdiskutanten möchte ich zwei kleine Fragezeichen mit auf den
Weg geben, wobei es mir vielleicht verziehen werden kann, wenn sich mein
Verdacht jederzeit ausgerechnet bevorzugt auf solche Aussagen richtet, die
gerade als Selbstverständlichkeiten vorgetragen werden.
Zum einen:
"Sprachlich richtig ist die Konstruktion, die die Mehrheit der Sprecher
einer Sprach-Gemeinschaft benutzt."
Daß sich Richtigkeit (orthótes) prinzipiell nicht nach Gebrauch und nicht
einmal nach Überzeugungen (dóxa) richten kann, hat zuerst Platon im
Theaitetos (152e ff.) gezeigt, und zwar so überzeugend, dass dies niemals
danach bezweifelt wurde. Das aber liegt wiederum nicht zuletzt auch daran,
dass Aristoteles in den sophístikoi elénchoi nachgewiesen hat, dass, wer
diesen Zweifel hegen will, dazu die Prämisse der Meinungsunabhängigkeit der
Richtigkeit schon braucht und sie damit bereits anerkannt hat. (Es gibt aber
ernstgemeinte Argumentationen dagegen bei Cusanus und Nietzsche.)
Zum anderen:
"sprache ist kein subjekt"
Wenn zugestanden ist, dass es ohne Sprache überhaupt kein Subjekt gibt, dann
ist die Sprache sogar das Supersubjekt der Subjektivität als solcher. Jeder
Strukturalist würde sagen, dass die Sprache DAS Subjekt ist, jedenfalls in
dem Sinne, dass nicht irgendwelche Mächte, Interessen usw. des Menschen die
Sprache prägen, sondern nur und ganz allein die Sprache selber. Leider
wollen die Strukturalisten aber das Subjekt ganz abschaffen. Wenn ich also
von der Sprache als Subjekt spreche, ist das natürlich dummes zeug, oder
bestenfalls eine dóxa (siehe oben). Nun kann ich aber noch auf den Begründer
der mod. Sprachwissenschaft verweisen, nämlich auf Saussure, der überrascht
feststellen musste, dass die Struktur der Sprache in keiner Weise
Konventionen (konservativen oder fortschrittlichen) unterworfen werden KANN.
"Die Sprache ist das Subjekt, das sich selber schafft." Das klingt nun aber
doch etwas zu verrückt, um wahr zu sein. Seien wir anti-platonisch und
stimmen über die Wahrheit ab. Los Evelyn, Frau Magistra, Du kennst doch
Saussure, bitte zustimmen...

----- Original Message ----- From: "mm" <[EMAIL PROTECTED]>
To: <BAGASCH@LISTS.MONOCHROM.AT>
Sent: Monday, December 31, 2007 8:32 PM
Subject: Re: [monochrom] einen guten Rutsch.


joerg piringer schrieb:
mm schrieb:
Die bekannteste sozio-linguistische Theorie von Sprachveränderung ist
die Willem Labovs (ich kann Genitiv) und die geht so:
Es gibt zwei Sprechergruppen A und B, die sich beide in ihren
Sprechgewohnheiten unterscheiden. Gruppe A verfügt, aus welchen Gründen
auch immer) in den Augen von Gruppe B über mehr Prestige (man kann auch
sagen Macht). Weil Gruppe B sich nun auch Prestige zulegen will,
imitiert sie nun die Sprechgewohnheiten von Gruppe A und verändert so
ihr eigenes Sprechverhalten. Diese Veränderungen können von der
unterschiedlichen Aussprache eines Phonems bis hin zur Übernahme ganzer
grammatikalischer Konstruktionen reichen. Und natürlich ist das eine
Ausübung von Macht. Und natürlich sind Werbefuzzis und Massenmedien
massiv dafür verantwortlich Sprache zu verhunzen, wenn man eine Sprache
den als verhunzbar ansehen will. Und natürlich kann man diesen Bösen
Konservativität unterstellen.

ich habe den eindruck, die vereinfachungen und vereinheitlichungen
passiert im wesentlichen aus ökonomischen überlegungen heraus. und das
ist in der kultur immer ein fehler.

Nicht jeder sprachliche Wandel ist unbedingt ein Schritt in Richtung
Vereinfachung (im Beispiel Dativ vs.Genitiv allerdings schon). Falls du
Zeit und Ineresse hast lies einfach mal das erste Kapitel von Labovs (er
heisst übrigens William, nicht Willem) "Sociolinguistic Patterns". In dem
darin untersuchten Sprachwandel bleibt nämlich die Komplexität des
Sprachsystems erhalten.

und vor allem dann, wenn es um DAS wesentliche kommunikationsmedium geht.

Aber dieses Bewahrenwollen von Sprache wie sie zu einem gegebenen
Zeitpunkt ist, ist das eigentlich konservative (lat. conservare:
bewahren).

genau das, glaube ich, ist ein irrtum. so gesehen müsste jede änderung
progressiv sein. dann hätten wir also z.b. in den letzten jahren das
progressivste fremdenrecht der welt bekommen.

Ich hab keine Ahnung vom österreichischen Fremdenrecht, aber bei meiner
Argumentation habe ich,
völlig fachidiotisch, nur auf Sprache Bezug genommen, deine
Analogiebildung ist vielleicht
angemessen, aber ich würde nicht so weit gehen wollen jede Veränderung,
ausserhalb von Sprache,
als progressiv zu bezeichnen, nur weil sie eine Veränderung ist


Ausserdem, wenn eine Sprache an grammatikalischer Komplexität abnimmt,
heisst das noch lange nicht, dass  deren Benutzer dadurch geistig ärmer
werden. Ein gutes Beispiel ist hier das Englische, das nur noch zwei
Kasus (Nominativ und Genitiv) hat (der Dativ ging irgendwann verloren,
was mit den eventuellen anderen Kasus passiert ist weiss ich nicht).
Doch was das Englische an grammatikalischer Komplexität verloren hat
wird dadurch wettgemacht, das es über viel mehr Wörter als jetzt z.B.
das Deutsche verfügt und deshalb auf Englisch z.B. Grade von Bedeutung
viel feiner bestimmt werden können. Komplexität besteht nämlich nicht
nur auf einer Ebene eines Sprachsystems.

klingt schön in der theorie, mir fällt aber kein beispiel aus der neueren
geschichte ein, wo das der fall gewesen wäre.

Wo was der Fall gewesen wäre?

vielleicht ist aber vielfalt auch ein besseres wort als komplexität, denn
darum gehts mir eigentlich.

Okay, ich glaube das war auch der Grund warum wir aneinander vorbei
geredet haben. Ich bin pro-Vielfalt, sei es nun auf sprachlicher oder
nicht-sprachlicher Ebene. Die sprachliche Vielfalt würde dann aber, in
meinen Augen, bedeuten, mehrere Sprachen und nicht nur Deutsch und
Englisch zu können, denn jede Sprache ist ein einzigartiges System die
Welt zu betrachten. D.h. das Aussterben von Sprachen ist Scheisse, nicht
aber die Veränderungen innerhalb einer Sprache, die sind nämlich ein
inhärentes Merkmal einer jeden lebenden Sprache.

Saisonale Grüsse,

was soll das eigentlich bedeuten?

Das ist eine oft von Sprachschützern angeprangerte Bedeutungsentlehnung
aus dem Englischen "season's greetings".

joerg

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